Venezuela ist ein wundervolles Land in Bewegung

Der zweiunddreißigste Newsletter (2024)

Foto: Francisco Trías.

Liebe Freund*innen,

Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.

In den letzten zwei Wochen war ich in Caracas, Venezuela, vor und nach den Präsidentschaftswahlen am 28. Juli. Im Vorfeld der Wahl sind mir zwei Dinge klar geworden. Erstens haben die Chavistas (Anhänger*innen von Hugo Chávez und des bolivarischen Projekts, das jetzt von Präsident Nicolás Maduro weitergeführt wird) den enormen Vorteil einer organisierten Massenbasis. Zweitens: Die Opposition, angeführt von der rechtsextremen María Corina Machado und der US-Regierung, wusste, dass die Chancen nicht gut standen, und signalisierte bereits vor der Wahl ihre Niederlage, indem sie behauptete, die Wahl sei gefälscht. Spätestens seit dem Abberufungsreferendum von 2004, als die Opposition Chávez aus dem Amt zu entfernen versuchte, ist es zu einem rechten Klischee geworden, dass das Wahlsystem in Venezuela nicht mehr fair sei.

Kurz nach Mitternacht in der Wahlnacht, am 28. Juli (dem siebzigsten Geburtstag von Chávez), gab der Nationale Wahlrat (CNE) bekannt, dass nach Auszählung von 80 % der Stimmen ein unumkehrbarer Trend festzustellen ist: Maduro hatte die Wiederwahl gewonnen. Diese Ergebnisse wurden dann einige Tage später vom CNE bestätigt, als 96,87 % der Stimmen ausgezählt waren. Daraus ging hervor, dass Maduro (51,95 %) den rechtsextremen Kandidaten Edmundo González (43,18 %) mit 1 082 740 Stimmen besiegt hatte (die anderen Oppositionskandidat*innen erhielten zusammen nur 600 936 Stimmen, was bedeutet, dass González auch dann nicht gewonnen hätte, wenn die Stimmen der anderen Oppositionskandidaten an ihn gegangen wären). Mit anderen Worten: Bei einer Wahlbeteiligung von 59,97 % erhielt Maduro etwas mehr als die Hälfte der Stimmen.

Ich habe mit einem hochrangigen Berater der Opposition, der anonym bleiben möchte, über die Ergebnisse gesprochen. Er sagte, dass er die Frustration der Opposition zwar nachvollziehen könne, das Endergebnis aber für korrekt halte. Im Jahr 2013 habe Maduro mit 50,62 % der Stimmen gewonnen, während Henrique Capriles bei den Präsidentschaftswahlen, die etwas mehr als einen Monat nach dem Tod von Chávez stattfanden, 49,12 % der Stimmen erhalten habe. Das war vor dem Sturz der Ölpreise und vor der Verschärfung der Sanktionen. Damals, nach dem Tod von Chávez, witterte die Opposition Blut, konnte sich aber nicht durchsetzen. «Es ist schwer, die Chavistas zu schlagen, denn sie haben sowohl das Programm von Chávez als auch die Fähigkeit, ihre Anhänger*innen zu den Wahlurnen zu mobilisieren», sagte er.

Es ist nicht so, dass die extreme Rechte keinen sozialen Wandel verspricht; sie will die staatliche Ölgesellschaft privatisieren, enteignetes Eigentum an die Oligarchie zurückgeben und privates Kapital einladen, Venezuela auszuschlachten. Aber ihr Versprechen einer sozialen Umgestaltung steht im Widerspruch zu den Träumen der Mehrheit. Deshalb kann die Rechte nicht gewinnen, und deshalb besteht eine wichtige Angriffslinie seit 2004 darin, Wahlbetrug anzuprangern.

Und so begannen Machado und Washington, fast wie abgesprochen, am Wahltag, gleich nach Schließung der Wahllokale und noch vor der Bekanntgabe der offiziellen Ergebnisse, von Betrug zu schwafeln und bauten dabei auf einer Angriffslinie auf, die sie schon seit Monaten verfolgten. Machados Anhänger*innen gingen sofort auf die Straße und griffen Symbole des Chavismo an: Schulen und Gesundheitszentren in Arbeitervierteln, öffentliche Busbahnhöfe und Busse, Büros von chavistischen Gemeinden und Parteien sowie Statuen von Persönlichkeiten, die die Bolivarische Revolution in Gang gesetzt hatten (darunter eine Statue von Chávez sowie des indigenen Häuptlings Coromoto). Mindestens zwei Aktivist*innen der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV), Isabel Cirila Gil aus dem Bundesstaat Bolívar und Mayauri Coromoto Silva Vilma aus dem Bundesstaat Aragua, wurden nach der Wahl ermordet, zwei Offiziere wurden getötet, und andere Chavistas, Polizist*innen und Beamt*innen wurden brutal verprügelt und gefangen genommen.

Die Art des Angriffs machte deutlich, dass diese rechtsextremen Kräfte der besonderen Art die Geschichte der Indígenas und Zambos sowie der Arbeiterklasse und der Bauernschaft Venezuelas auslöschen wollten. Seit der Wahl sind jeden Tag Hunderttausende von Chavistas in Caracas und anderswo auf die Straße gegangen. Die Fotos in diesem Rundbrief wurden von Francisco Trías beim Frauenmarsch am 2. August, von Zoe Alexandra (Peoples Dispatch) beim Marsch der Arbeiterklasse zur Verteidigung des Vaterlandes am 31. Juli (zwei von vielen Massenmobilisierungen, die seit den Wahlen stattgefunden haben) und von mir bei einer Kundgebung vor den Wahlen am 27. Juli aufgenommen. An allen diesen Kundgebungen hallte der Ruf no volverán – sie werden nicht zurückkehren – durch die Menge. Die Oligarchie, sagten sie, wird nicht zurückkehren.

Foto: Vijay Prashad.

Die Bolivarische Revolution begann 1999, als Chávez die Präsidentschaft erlangte. Es wurden mehrere Wahlen abgehalten, um die Verfassung zu ändern und den Widerstand der Oligarchie zu überwinden (sowie den Widerstand Washingtons, das mehrfach versucht hat, Chávez und später Maduro zu stürzen, z. B. durch den gescheiterten Staatsstreich im Jahr 2002 oder durch die anhaltende Anwendung von Sanktionen als Mittel zum Regimewechsel und Versuche, in Venezuela einzumarschieren). Chávez’ Regierung verstaatlichte die Ölindustrie, verhandelte die Pachtpreise neu (durch das Kohlenwasserstoffgesetz von 2001) und entfernte eine ganze Garde der korrupten Beamtenschaft vom Springbrunnen der staatlichen Gewinne.

Die Staatskasse konnte einen größeren Anteil der Lizenzgebühren von multinationalen Ölfirmen einnehmen. Die staatliche Ölgesellschaft Petróleos de Venezuela, S.A. (PDVSA) richtete den Fonds für soziale und wirtschaftliche Entwicklung (Fondespa) ein, um Maßnahmen zugunsten der Ölarbeiter*innen, ihrer Gemeinden und andere Projekte zu finanzieren. Der Ölreichtum sollte für die Industrialisierung des Landes genutzt werden und die Abhängigkeit Venezuelas von seinen Ölverkäufen und Importen beenden. Die Diversifizierung der Wirtschaft ist ein zentraler Bestandteil des bolivarischen Programms, einschließlich der Wiederbelebung der Landwirtschaft des Landes, um auf diese Weise das fünfte strategische Ziel des Plans für das Vaterland zu erreichen: «das Leben auf dem Planeten zu erhalten und die menschliche Spezies zu retten».

Dank dieser Ölgelder konnte die Regierung Chávez die Sozialausgaben um 61 % (772 Mrd. USD) erhöhen und das Leben der Bevölkerung durch groß angelegte Programme wie die verschiedenen misiones (Missionen) verbessern, mit denen die in der Verfassung von 1999 verankerten Rechte verwirklicht werden sollen. So richtete die Regierung im Jahr 2003 drei Missionen (Robinson, Ribas und Sucre) ein, um Pädagog*innen in einkommensschwache Gebiete zu entsenden und dort kostenlose Alphabetisierungs- und Hochschulkurse anzubieten. Die Mission Zamora nahm den Prozess der Landreform in die Hand, und die Mission Vuelta al Campo versuchte, die Menschen zu ermutigen, aus den städtischen Slums auf das Land zurückzukehren. Die Mission Mercal stellte preiswerte, qualitativ hochwertige Lebensmittel bereit, um die Bevölkerung von hochverarbeiteten, importierten Lebensmitteln zu entwöhnen, während die Mission Barrio Adentro versuchte, der Arbeiterklasse und den Armen eine preiswerte, qualitativ hochwertige medizinische Versorgung zu bieten, und die Mission Vivienda mehr als 5 Millionen Häuser baute.

Durch diese Missionen sank die Armutsquote in Venezuela von 1999 bis heute um 37,6 % (der Rückgang der extremen Armut ist atemberaubend: von 16,6 % im Jahr 1999 auf 7 % im Jahr 2011, ein Rückgang um 57,8 %, und wenn man mit der Messung ab 2004 – dem Beginn der Wirkung der Missionen – beginnt, geht die extreme Armut um 70 % zurück). Venezuela, das vor 1999 zu den Ländern mit der größten sozialen Ungleichheit gehörte, wurde zu einer der Gesellschaften mit der geringsten Ungleichheit: Der Gini-Koeffizient sank um 54 % (der niedrigste in der Region), was die Auswirkungen dieser grundlegenden sozialpolitischen Maßnahmen auf das tägliche Leben verdeutlicht.

In den letzten zwanzig Jahren habe ich bei meinen häufigen Aufenthalten in Venezuela mit Hunderten von Chavistas aus der Arbeiterklasse gesprochen – viele von ihnen sind Schwarze Frauen. Seit der Verschärfung der Sanktionen sehen sich Venezolaner*innen mit immensen Entbehrungen konfrontiert und beklagen sich freimütig über den Kurs der Revolution. Sie leugnen die Probleme nicht, aber anders als die Opposition verstehen sie, dass die Wurzel der Krise der hybride Krieg der USA ist. Auch wenn die soziale Ungleichheit und die Korruption zugenommen haben, sehen sie die Ursache für diese Übel in der Gewalt der Sanktionspolitik (was inzwischen sogar die Washington Post zugibt).

Während der massiven Demonstrationen zur Verteidigung der Regierung in der Woche nach den Wahlen beschrieben die Menschen offen die zwei Möglichkeiten, vor denen sie stehen: zu versuchen, den bolivarischen Prozess durch Maduros Regierung voranzutreiben oder zum Februar 1989 zurückzukehren, als Carlos Andrés Pérez dem Land die vom IWF ausgearbeitete Wirtschaftsagenda, bekannt als paquetazo (Paket), auferlegte. Pérez tat dies gegen seine eigenen Wahlversprechen und gegen seine eigene Partei (Acción Democrática) und provozierte damit einen Aufstand in den Städten, der als Caracazo bekannt wurde und bei dem an einem schicksalhaften Tag bis zu 5.000 Menschen von den Regierungstruppen getötet wurden (die Schätzungen über die Zahl der Todesopfer gehen jedoch weit auseinander).

Foto: Francisco Trías.

In der Tat sind viele der Meinung, dass Machado eine noch schlimmere Ära im Land einleiten würde, da sie nicht über die sozialdemokratische Raffinesse von Pérez verfügt und ihrem Land eine Schocktherapie aufzwingen möchte, um ihrer eigenen Klasse zu nützen. Ein populäres venezolanisches Sprichwort bringt das Wesen dieser Wahl auf den Punkt: chivo que se devuelve se ’esnuca (die Ziege, die zurückkehrt, bricht sich das Genick).

Der kanadische Milliardär Peter Munk, dem Barrick Gold gehört, schrieb, Chávez sei ein «gefährlicher Diktator», verglich ihn mit Hitler und forderte seinen Sturz. Das war im Jahr 2007, als Munk sich darüber aufregte, dass Chávez die Goldexporte Venezuelas kontrollieren wollte. Die allgemeine Ausrichtung der Chávez-Regierung bestand darin, sich von der Weltwirtschaft «abzukoppeln», was bedeutete, multinationale Unternehmen und mächtige Länder des globalen Nordens daran zu hindern, die Agenda von Ländern wie Venezuela zu bestimmen.

Diese Idee der «Abkopplung» steht im Mittelpunkt unseres jüngsten Dossiers How Latin America Can Delink from Imperialism («Wie sich Lateinamerika vom Imperialismus abkoppeln kann»). Aufbauend auf der 2030 Strategic Agenda der Bolivarischen Allianz für die Völker Unseres Amerikas – Vertrag über den Handel der Völker (ALBA-TCP) schlägt das Dossier vier Schlüsselbereiche vor, die abgekoppelt werden müssen, um die Grundlage für eine souveräne Entwicklungsstrategie zu schaffen: Finanzen, Handel, strategische Ressourcen und logistische Infrastruktur. Genau das hat sich der Bolivarische Prozess vorgenommen, und genau deshalb wird seine Regierung vom US-Imperialismus und von multinationalen Konzernen wie Barrick Gold so heftig angegriffen.

Foto: Zoe Alexandra

Am Tag nach der Wahl regnete es. Bei einer der Demonstrationen zur Verteidigung des bolivarischen Prozesses an diesem Tag rezitierte ein Chavista einige Zeilen aus einem Gedicht des venezolanischen Dichters Víctor «El Chino» Valera Mora (1935-1984) aus dem Jahr 1961, «Maravilloso país en movimiento» («Wunderbares Land in Bewegung»).

Wunderbares Land in Bewegung

Wo alles voranschreitet oder sich zurückzieht

Wo das Gestern ein Vorstoß oder ein Abschied ist.

Diejenigen, die dich nicht kennen

Werden sagen, dass du ein unlösbares Rätsel bist.

So oft verspottet

Und doch stehst du immer aufrecht mit Freude.

Du wirst frei sein.

Wenn die Verurteilten deine Küsten nicht erreichen

wirst du an einem anderen Tag zu ihnen gehen.

Ich glaube weiter an dich

wundervolles Land in Bewegung.

Herzlichst,

Vijay