Sie wurde brutal ermordet, bevor sie ihre Geschichte für die Welt aufschreiben konnte

Der fünfunddreißigste Newsletter (2024)

Arpita Singh (Indien), My Lollypop City: Gemini Rising, 2005.

Liebe Freund*innen,

Grüße vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.

Am 8. August 2024 beendete eine 31-jährige Ärztin am RG Kar Medical College in Kolkata (Westbengalen, Indien) ihre 36-Stunden-Schicht im Krankenhaus, aß mit ihren Kolleg*innen zu Abend und ging in die Seminarhalle des Colleges, um sich vor ihrer nächsten Schicht auszuruhen. Am nächsten Tag, kurz nachdem sie als vermisst gemeldet worden war, wurde sie in einem Seminarraum gefunden. Ihr lebloser Körper wies Anzeichen schrecklicher Gewalt auf. Da es nach indischem Recht verboten ist, die Namen von Opfern von Sexualverbrechen zu nennen, wird ihr Name in diesem Newsletter nicht erscheinen.

Die Geschichte der jungen Ärztin ist kein Einzelfall: Alle fünfzehn Minuten zeigt eine Frau in Indien eine Vergewaltigung an. Im Jahr 2022 wurden mindestens 31.000 Vergewaltigungen angezeigt, ein Anstieg um 12 % gegenüber 2020. Diese Statistiken zeigen bei weitem nicht das Ausmaß der Sexualverbrechen, von denen viele aus Angst vor sozialen Sanktionen und patriarchalischer Ungläubigkeit nicht angezeigt werden. Im Jahr 2018 veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine umfassende Studie über Gewalt gegen Frauen, die Daten aus 161 Ländern zwischen 2000 und 2018 verwendete und zeigte, dass knapp eine von drei Frauen, nämlich 30 %, «körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch einen Intimpartner oder einen Nicht-Partner oder beides» erlitten hat. Was diese junge Ärztin erlebte, war eine extreme Version eines empörend alltäglichen Ereignisses.

Nalini Malini (Indien), Listening to the Shades, 2007.

Nicht lange nach der Entdeckung ihrer Leiche gab der Direktor des RG Kar College, Dr. Sandip Ghosh, den Namen des Opfers bekannt und machte sie für den Vorfall verantwortlich. Die Krankenhausleitung teilte den Eltern der jungen Ärztin mit, dass sie Selbstmord begangen habe. Sie warteten stundenlang auf die Genehmigung der Behörden für eine Obduktion, die in aller Eile durchgeführt wurde. «Sie war meine einzige Tochter», sagte die Mutter. «Ich habe hart für sie gearbeitet, damit sie Ärztin werden konnte. Und jetzt ist sie tot». Die Polizei umstellte das Haus der Familie und erlaubte niemandem, sie zu treffen. Die Regierung setzte die Familie unter Druck, den Leichnam schnell einzuäschern, und organisierte den gesamten Einäscherungsprozess. Sie wollten, dass die Wahrheit verschwindet. Nur weil Aktivist*innen der Democratic Youth Federation of India (DYFI) den Krankenwagen blockierten, konnte die Familie die Leiche noch sehen.

Am 10. August, dem Tag nach der Entdeckung der getöteten jungen Ärztin, veranstalteten die DYFI, die Students Federation of India (SFI), die Communist Party of India (Marxist) und andere Organisationen in ganz Westbengalen Proteste, um Gerechtigkeit zu fordern. Diese Proteste wuchsen rasch an, und medizinische Fachkräfte im ganzen Bundesstaat und später in ganz Indien stellte sich mit Plakaten vor ihren Arbeitsplätzen auf, um ihre politische Wut zum Ausdruck zu bringen. Die Frauenbewegung, die 2012 nach der Gruppenvergewaltigung und Ermordung einer jungen Frau in Delhi massive Proteste organisiert hatte, ging erneut auf die Straße. Die Zahl der jungen Frauen, die an diesen Protesten teilnahmen, spiegelt das Ausmaß der sexuellen Gewalt in der indischen Gesellschaft wider, und ihre Reden und Plakate waren von Traurigkeit und Wut durchdrungen. «Fordert die Nacht zurück», riefen Zehntausende von Frauen bei Protesten in ganz Westbengalen am 14. August, dem indischen Unabhängigkeitstag.

Rani Chanda (Indien), The Solace, 1932.

Der bemerkenswerteste Aspekt dieser Protestbewegung war die Mobilisierung der medizinischen Gewerkschaften und Ärzt*innen. Am 12. August rief die Federation of Resident Doctors Association (FORDA), der die ermordete Ärztin angehört hatte, alle Ärzt*innen dazu auf, alle nicht notfallbedingten medizinischen Dienste einzustellen. Am nächsten Tag zogen Ärzt*innen in staatlichen Krankenhäusern in ganz Indien ihre weißen Kittel an und kamen dem Aufruf nach. Der Vorsitzende des indischen Ärzteverbandes, Dr. RV Asokan, traf sich mit dem Gesundheitsminister der Union, JP Nadda, und stellte fünf Forderungen:

  1. Krankenhäuser müssen sichere Orte sein;
  2. Die Zentralregierung muss ein Gesetz zum Schutz von medizinischem Personal erlassen;
  3. die Familie muss eine angemessene Entschädigung erhalten;
  4. die Regierung muss innerhalb eines limitierten zeitlichen Rahmens eine Untersuchung durchführen; und
  5. Dienstärzt*innen müssen menschenwürdige Arbeitsbedingungen haben (und keine 36-Stunden-Schichten ableisten).

Die WHO berichtet, dass bis zu 38 % der Beschäftigten im Gesundheitswesen während ihrer beruflichen Laufbahn körperliche Gewalt erleiden, aber in Indien sind die Zahlen astronomisch höher. So berichten fast 75 % der indischen Ärzt*innen, dass sie in irgendeiner Form Gewalt erfahren haben, während mehr als 80 % angeben, dass sie überlastet sind und 56 % nicht genug Schlaf bekommen. Die meisten dieser Ärzt*innen werden von den Familien der Patient*innen angegriffen, die glauben, dass ihre Angehörigen keine angemessene medizinische Versorgung erhalten haben. Aussagen von Ärztinnen während der Proteste zeigen, dass weibliches Gesundheitspersonal routinemäßig sexuelle Belästigung und Gewalt erlebt, nicht nur von Patient*innen, sondern auch von anderen Krankenhausmitarbeiter*innen. Die gefährliche Kultur in diesen Einrichtungen, so sagen viele von ihnen, ist unerträglich, wie die hohen Selbstmordraten unter weiblichem Pflegepersonal zeigen, die als Reaktion auf sexuelle und andere Formen der Belästigung begangen werden – ein massives Problem, das wenig Beachtung findet. Wer online nach den Stichwörtern «Krankenschwester», «Indien», «sexuelle Belästigung» und «Selbstmord» sucht, findet eine erschreckende Anzahl Berichten allein aus dem vergangenen Jahr. Das erklärt, warum Ärztinnen und Krankenschwestern so heftig auf den Tod der jungen Ärztin im RG Kar reagiert haben.

Dipali Bhattacharya (Indien), Ohne Titel, 2007.

Am 13. August wies der Oberste Gerichtshof von Kalkutta die Polizei an, den Fall an das Central Bureau of Investigation zu übergeben. In der Nacht zum 14. August zerstörten Vandalen einen Großteil des Eigentums auf dem Campus, griffen Ärzt*innen an, die eine Mitternachtswache abhielten, warfen Steine auf die in der Nähe befindlichen Polizisten und zerstörten Beweise, die am Tatort verblieben waren, einschließlich des Seminarraums, in dem die Ärztin gefunden worden war, was darauf schließen lässt, dass versucht wurde, jegliche Ermittlungen zu stören. Als Reaktion auf den Angriff setzte die FORDA ihren Streik fort.

Anstatt jemanden am Tatort zu verhaften, beschuldigten die Behörden die Anführer*innen der friedlichen Proteste, die Schuldigen zu sein, einschließlich der DYFI- und SFI-Führer*innen, die die ersten Proteste initiiert hatten. Die DYFI-Sekretärin für Westbengalen, Minakshi Mukherjee, war eine derjenigen, die von der Polizei vorgeladen wurden. «Die Leute, die Vandalismus in einem Krankenhaus begehen», sagte sie, «können nicht aus der Zivilgesellschaft kommen. Wer also schützt diese Leute?«

Die Polizei hat auch zwei Ärzt*innen, Dr. Subarna Goswami und Dr. Kunal Sarkar, auf die Polizeiwache vorgeladen, weil sie falsche Informationen über den Obduktionsbericht verbreitet haben sollen. Tatsächlich sind die beiden lautstarke Kritiker*innen der Regierung des Bundesstaates. Die Ärztegemeinschaft fasste die Vorladung als einen Akt der Einschüchterung auf und marschierte mit ihnen zur Polizeistation.

Die Unzufriedenheit über die Regierung des Bundesstaates Westbengalen unter der Führung von Ministerpräsidentin Mamata Banerjee vom All India Trinamool Congress, einer 1998 gegründeten Mitte-Rechts-Partei, die seit 2011 an der Macht ist, ist weit verbreitet. Ein besonders hervorstechendes Beispiel für die Quelle dieses mangelnden Vertrauens in die Regierung des Bundesstaates ist ihre Entscheidung, Dr. Ghosh nach seinem Rücktritt von der RG Kar eilig wieder als Direktor des National Medical College in Kalkutta einzustellen. Der Oberste Gerichtshof von Kalkutta rügte die Regierung für diese Entscheidung und forderte, Dr. Ghosh für den Zeitraum der Ermittlungen zu beurlauben.

Dr. Ghosh hat nicht nur den Mordfall an der jungen Ärztin gröbstens falsch behandelt, sondern wird auch des Betrugs beschuldigt. Anschuldigungen, dass die ermordete Ärztin weitere Beweise für Dr. Ghoshs Korruption an der Hochschule veröffentlichen wollte, verbreiten sich nun im ganzen Land, ebenso wie Anschuldigungen, dass sexuelle Gewalt und Mord eingesetzt wurden, um jemanden zum Schweigen zu bringen, der Beweise für ein anderes Verbrechen hatte. Ob die Regierung diesen Anschuldigungen nachgehen wird, ist angesichts des großen Spielraums, der den Mächtigen eingeräumt wird, unwahrscheinlich.

Sunayani Devi (Indien), Lady with Parrot, 1920er Jahre.

Die Regierung von Westbengalen wird von ihrer Angst vor dem Volk bestimmt. Am 18. August sollten die beiden legendären Fußballmannschaften des Bundesstaates, East Bengal und Mohun Bagan, um den Durand Cup spielen. Als klar wurde, dass die Fans von den Tribünen aus protestieren wollten, sagte die Regierung das Spiel ab. Dies hielt die Fans der beiden Mannschaften nicht davon ab, gemeinsam mit den Anhänger*innen der drittwichtigsten Fußballmannschaft Westbengalens, Mohammedan Sporting, vor dem Yuva-Bharati-Stadion gegen die Spielabsage und den Mord an der jungen Ärztin zu protestieren. «Wir wollen Gerechtigkeit für RG Kar», erklärten sie. Daraufhin wurden sie von der Polizei angegriffen.

Shipra Bhattacharya (Indien), Desire, 2006.

Vor vielen Jahren schrieb der Dichter Subho Dasgupta das beliebte und kraftvolle Gedicht Ami sei meye («Ich bin dieses Mädchen»), das sehr gut der Soundtrack dieser Proteste sein könnte:

Ich bin dieses Mädchen.
Die, die du jeden Tag im Bus, im Zug, auf der Straße siehst
deren Sari, Stirn, Ohrringe und Knöchel
du jeden Tag siehst
und
davon träumst, mehr zu sehen.
Du siehst mich in deinen Träumen, wie du es dir gewünscht hast.
Ich bin dieses Mädchen.
...
Ich bin das Mädchen - aus dem Kamin-Basti-Slum in Chai Bagan, Assam
das du um Mitternacht in den Sahibi-Bungalow entführen willst,
ihren nackten Körper mit deinen Augen sehen willst,
die vom brennenden Licht des Kamins berauscht sind.
Ich bin dieses Mädchen.
...
In schweren Zeiten verlässt sich die Familie auf mich.
Mutters Medikamente kaufte ich von meinem Schulgeld.
Mit meinem Nebenverdienst kaufte ich die Bücher meines Bruders.
Mein ganzer Körper ist von starkem Regen durchnässt
mit dem schwarzen Himmel auf seinem Kopf.
Ich bin ein Regenschirm.
Die Familie lebt glücklich unter meinem Schutz.
...
Wie ein zerstörerisches Lauffeuer
werde ich weiter vorwärts drängen! Und auf beiden Seiten meines Weges vorwärts
Unzählige kopflose Körper
werden weiterhin leiden unter
schrecklichen Schmerzen:
der Körper der Zivilisation
der Körper des Fortschritts
der Körper der Verbesserung.
Der Körper der Gesellschaft.

Vielleicht bin ich das Mädchen! Vielleicht! Vielleicht ...

Die Bilder in diesem Newsletter sind alle von Frauen gemalt, die in Bengalen geboren wurden.

Herzlichst,
Vijay