Wie man eine kontextbezogene Analyse durchführt

Der zweiundvierzigste Newsletter (2024)

Helen Zughaib (Libanon), Reading Coffee Cups, um 2021.

Liebe Freund*innen,

Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.

Die Lektüre der traditionellen westlichen Medien – die die Weltinformationsordnung dominieren – ist schmerzhaft. Während des völkermörderischen Krieges gegen die Palästinenser*innen beispielsweise konnten sich diese Medien (wie CNN, New York Times, The Guardian, Le Monde und Bild) nicht dazu durchringen, die Angriffe des israelischen Militärs auf Palästinenser*innen zu beschreiben. Allenfalls greifen sie zum Passiv («Palästinenser sterben») oder zu einer gefährlichen Form der Umwandlung ziviler Gebiete in militärische Ziele («Hisbollah-Dorf» oder «Hamas-Kommandozentrale»).

Eine Studie über die Berichterstattung der US-Printmedien in den ersten sechs Wochen des Völkermords im Gazastreifen ergab, dass «auf zwei palästinensische Tote eine Erwähnung von Palästinenser*innen kommt. Für jeden israelischen Todesfall werden Israelis achtmal erwähnt». Mit anderen Worten: In den Mainstream-Medien wird ein Israeli, der stirbt, 16 Mal häufiger erwähnt als ein*e Palästinenser*in, der*die stirbt. Dieser Trend, der palästinensische Opfer auslöscht und entmenschlicht, scheint sich noch zu verstärken, da die Zahl der getöteten Palästinenser*innen exponentiell angestiegen ist, mit geschätzten 114.000 Toten. Es gibt keine Entschuldigung für diese miserable Berichterstattung, die den ständigen Informationsfluss ignoriert, der durch die Live-Berichterstattung zahlreicher palästinensischer Journalist*innen und Nutzer*innen sozialer Medien im Gazastreifen unter Einsatz ihres Lebens entsteht, sowie den breiteren Kontext für die US-israelische Besatzung, die Apartheid und den völkermörderischen Krieg, der durch eine Vielzahl von Analysen geliefert wird.

Fernsehsendungen sind noch schlimmer, da jede Person, die Kritik am Völkermord übt, gezwungen wird, ein Eingeständnis zu machen («Ich verurteile den Angriff der Hamas vom 7. Oktober» oder «Ich verurteile die russische Invasion in der Ukraine»), bevor das Gespräch fortgesetzt werden kann, und da viele Kritiker*innen die Diskussion nicht um diese Verurteilung herum gestalten wollen, kommt das Gespräch nie voran. Dieser rituelle Akt der Verurteilung ist nicht nur die Eintrittskarte in ein Gespräch, sondern ein ideologisches Zugeständnis, das den Raum für eine echte Debatte darüber verengt, wann Konflikte und Krisen beginnen, wie die Struktur eines Konflikts zu verstehen ist und wie man auf der Grundlage dieser längerfristigen historischen und strukturellen Bewertung am besten die Wege nach vorn ermittelt. Diese Art der Diskussion wird als konjunkturelle oder kontextbasierte Analyse bezeichnet, die den politischen und sozialen Bewegungen das Material liefert, um in die Gestaltung der Zukunft einzugreifen, und die die Arbeit unseres Instituts begründet. In diesem Newsletter stelle ich vier Texte vor, die auf konjunkturellen Analysen beruhen, aber zunächst möchte ich erklären, was eine solche Analyse beinhaltet.

Alia Ahmad (Saudi-Arabien), The Field, 2022.

Das Problem mit Informationen heute ist nicht nur ihr Inhalt, sondern auch ihre Form. Die Geschwindigkeit, mit der Informationen präsentiert werden, ist bemerkenswert und macht es für einen interessierten Menschen fast unmöglich, zu erkennen, was wichtig und was wahr ist. Die Bereitstellung eines Übermaßes an Informationen, die ohne angemessene, demokratische Analyse erfolgt und fast vollständig von einer kleinen Oligarchie kontrolliert wird, ist selbst eine Form der Zensur, die die Leser*innen und Zuschauer*innen bis zur Unterwerfung erschöpft. Was zensiert wird, ist nicht nur die Information selbst, auch wenn das häufiger vorkommt, als wir zugeben, sondern auch Wissen und Kenntnisse. Die Nachrichten bleiben auf der Ebene des Geschehens («das ist passiert»), ohne irgendetwas zu erklären: Sie erklären nicht, warum es passiert ist, was die Ursache dafür ist und welche Folgen es haben könnte. Diese Form der Berichterstattung lügt durch Auslassung, denn Ereignisse sind weder statisch noch singulär, sondern Teil eines komplexen Prozesses.

Kontextbasiertee Analysen sind ein wichtiges Instrument, um diese Komplexität zu verstehen, da sie versuchen, den dynamischen Prozess der Geschichte in einem bestimmten Moment zu erklären. Jeder Zeitpunkt ist in einer Vergangenheit und einer Zukunft verwurzelt: Die Vergangenheit prägt die Gegenwart, aber die Gegenwart lässt auch erahnen, was in der Zukunft kommen kann, je nachdem, wie man jetzt eingreift. Aus diesem Grund beruhen konjunkturelle Analysen, abgeleitet aus der Geschichte der marxistischen Analyse und der geleisteten Arbeit politischer und sozialer Bewegungen, auf vier Prinzipien:

  1. Geschichte. Da Ereignisse nicht isoliert stattfinden, sondern Teil eines langen Prozesses sind, muss zwischen zufälligen oder gelegentlichen Ereignissen und organischen oder strukturellen Ereignissen unterschieden werden.
  2. Totalität. Ereignisse sind miteinander verknüpft. Sie sind Teil einer komplexen Struktur, die verschiedene Möglichkeiten umfasst.
  3. Struktur. Ereignisse finden innerhalb eines Schemas statt, das wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Aspekte umfasst und in dem die Menschen in Klassen und Machtblöcken organisiert sind, die durch Institutionen und Ideen interagieren.
  4. Politik. Ereignisse müssen aktiv verstanden werden, d. h. man muss sich fragen, wie eine politische Kraft handeln wird, um die Zukunft zu gestalten, anstatt passiv zuzusehen, wie sich die Zukunft entfaltet. Die Beantwortung dieser Frage erfordert eine genaue Analyse der Art der Klassenbildung, des Gleichgewichts der politischen Kräfte und der kulturellen Traditionen, die eine bestimmte politische Agenda fördern könnten.

Unsere Büros in Asien, Afrika und Lateinamerika haben kürzlich vier Texte veröffentlicht, die auf konjunkturellen Analysen basieren:

  1. Nepal’s Fight for Sovereignty, the Millennium Challenge Corporation, and the US’s New Cold War against China («Nepals Kampf um Souveränität, die Millennium Challenge Corporation und der neue kalte Krieg der USA gegen China»), das gemeinsam mit der Zeitschrift Bampanth produziert und von ihrem Chefredakteur Dr. Mahesh Maskey verfasst wurde, der auch Botschafter Nepals in China war. Dieser Text ist nur auf Englisch verfügbar.
  2. A New World Born from the Ashes of the Old («Eine neue Welt aus der Asche der alten»), verfasst von Hanna Eid und produziert mit Unterstützung der West African People’s Organisation. Dieser Text ist nur auf Englisch verfügbar.
  3. La criminalización de los cultivadores como coartada imperialista: economía política de las drogas en Colombia («Die Kriminalisierung der Bauern als imperialistisches Alibi: Die politische Ökonomie von Drogen in Kolumbien»), gemeinsam recherchiert und produziert mit dem Centro de Pensamiento y Diálogo Político und der Coordinadora Nacional de Cultivadores de Coca, Amapola y Marihuana in Kolumbien und verfasst von Karen Jessenia Gutiérrez Alfonso. Dieser Text ist nur auf Spanisch verfügbar.
  4. A Revista Estudos do Sul Global («Zeitschrift für Studien des Globalen Südens»), die Artikel zu Themen wie Imperialismus, dem Charakter des Finanzwesens in unserer Zeit und dem Tempo des Klassenkampfes enthält. Dieser Text ist nur auf Portugiesisch verfügbar.

Über jeden dieser Texte werde ich in den kommenden Monaten ausführlicher schreiben, denn ihre Tiefe und Qualität helfen uns, die Oberflächlichkeit und Sensationslust zu überwinden, die normalerweise die Analysen der Gegenwart bestimmen. So verdeutlicht Maskeys Beitrag über die Annahme eines Zuschusses der US-Regierung durch die nepalesische Regierung die dynamische Struktur des von den USA auferlegten Neuen Kalten Krieges in Asien, während Hanna Eids Einschätzung der Allianz der Sahel-Staaten (Burkina Faso, Mali und Niger) es uns ermöglicht, den Kampf um Souveränität in Westafrika insgesamt zu verstehen. Der Bericht über den Krieg gegen die Drogen gibt einen Einblick in den Druck, der auf der Regierung von Präsident Gustavo Petro in Kolumbien lastet, was eine Anerkennung der Rolle der lukrativen internationalen Drogenmafia im politischen Establishment des Landes erfordert.

Vor einigen Jahren besuchte ich die Kaserne von Zacapa, etwa zwei Stunden östlich von Guatemala-Stadt. Der Anblick der Kaserne war fast idyllisch, ihre Steinmauern waren von grünen Weiden umgeben, doch die unheimlichen Wachtürme deuteten auf das Blutvergießen hin, das hier stattfand: Hier wurden Nora Paiz Cárcamo (1944-1967), Otto René Castillo (1934-1967), andere Mitglieder der Rebel Armed Forces (FAR) und etwa ein Dutzend Bäuer*innen brutal gefoltert und lebendig verbrannt. Sowohl Nora als auch Otto waren Mitglieder der kommunistischen Bewegung, die gegen die guatemaltekische Diktatur kämpfte; sie wurden in der Deutschen Demokratischen Republik bzw. der Sowjetunion ausgebildet und schlossen sich dem bewaffneten Kampf in der Sierra de las Minas (benannt nach den Jade-, Marmor- und Asbestminen) an, wo sie im März 1967 getötet wurden. Später erzählte Noras Mutter, Clemencia Cárcamo Sandoval, der Wahrheitskommission, dass die blutige, zerschundene Leiche ihrer Tochter von Knüppeln zerschlagen gefunden wurde, ein Zeichen dafür, wie brutal sie misshandelt worden war. Zwei Jahre bevor er zusammen mit seinen Kamerad*innen ermordet wurde, schrieb Otto, dessen schöne Gedichte von dem salvadorianischen Guerilladichter Roque Dalton (1935-1975) inspiriert waren, eine Elegie an die «apolitischen Intellektuellen»:

I
Eines Tages
werden die apolitischen
Intellektuellen
meines Landes
von den bescheidensten
unseres Volkes
verhört werden.

Sie werden gefragt werden
was sie taten
als
ihre Heimat langsam
ausgelöscht wurde,
wie ein Feuerchen,
klein und allein.

Niemand wird sie
nach ihren Anzügen
oder ihren langen
Siestas
nach dem Mittagessen fragen,
oder nach ihren sterilen
Kämpfen mit dem Nichts,
oder nach
ihrer ontologischen
Art
Geld zu verdienen,
Sie werden nicht über
griechische Mythologie befragt werden,
oder über die Selbstabscheu, die sie fühlten,
wenn jemand, tief in sich,
sein Schicksal akzeptierte, als Feigling zu sterben.
Sie werden nicht nach
ihren absurden
Rechtfertigungen gefragt werden,
die im Schatten
der totalen Lüge entstanden.

II
An diesem Tag
werden die bescheidenen Leute kommen.
Die, die keinen Platz hatten
in den Büchern und Gedichten
der apolitischen Intellektuellen.
aber ihnen jeden Tag
ihr Brot und ihre Milch,
ihre Eier und Tortillas brachten,
die ihre Kleider flickten,
die ihre Autos fuhren,
die sich um ihre Hunde und Gärten kümmerten,
die für sie arbeiteten,
und die sie fragen werden:
Was tatet ihr, als die Armen
litten, als die Zartheit und das Leben
in ihnen ausgelöscht wurde?

III
Apolitische Intellektuelle
meines süssen Landes,
ihr werdet nichts zu sagen haben.

Ein Aasgeier des Schweigens
wird eure Innereien verschlingen.
Euer eigenes Elend
wird an euren Seelen nagen.
Und ihr werdet schweigen,
und euch für euch selbst schämen.

Herzlichst,
Vijay