Der sechsundvierzigste Newsletter (2024)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Als Dante Alighieri und sein Führer im VII. Gesang der Göttlichen Komödie den fünften Kreis der Hölle erreichen, kommen sie zum Fluss Styx, wo sich Menschen, die ihre Wut im Leben nicht zügeln konnten, nun an der Oberfläche des aufgewühlten, morastigen Wassers wälzen und sich gegenseitig bekämpfen, und unter ihnen liegen die, die im Leben mürrisch waren, deren Frustrationen als Blasen an die Oberfläche kommen:
Und ich, der sorglich umzuschaun bemüht war,
Sah schlammbedeckte Leut' in jenem Sumpfe
Ganz nackend und mit zornerregten Zügen.
Nicht nur mit Händen schlugen sie einander,
Sie stießen sich mit Kopf und Brust und Füßen,
Zerfleischten sich durch Bisse gegenseitig.
In jeder Kultur gibt es eine Beschreibung dieser Hölle, in der diejenigen, die gegen Regeln verstoßen haben, die eine harmonische Gesellschaft schaffen sollen, nach dem Tod ihre Strafe erleiden. So beschrieben die unbekannten Autoren des Garuda Purana in der indischen Ganges-Ebene Jahrhunderte vor Dante die achtundzwanzig verschiedenen Narakas (Höllen). Die Ähnlichkeiten zwischen Dantes Göttlicher Komödie und dem Garuda Purana lassen sich durch die von den Menschen geteilten Schrecken und Ängste erklären: lebendig verschlungen, ertränkt und verstümmelt zu werden. Es ist, als ob die Gerechtigkeit, die den meisten Menschen auf der Erde erlangen können, unzureichend ist, und so besteht die Hoffnung, dass eine göttliche Gerechtigkeit schließlich eine aufgeschobene Strafe verhängen wird.
Im Januar 2025 wird Donald Trump – der eine Wutpolitik kultiviert hat, die in unserer Welt nicht unüblich ist – für seine zweite Amtszeit als Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt werden. Eine solche Wutpolitik ist in vielen Ländern anzutreffen, auch in Europa, das sich gern als rational und als Kontinent der Vernunft darstellt. Unter Liberalen gibt es die Tendenz, diese Wutpolitik als Faschismus zu bezeichnen, aber das ist nicht richtig. Trump und seine politische Bruderschaft in der ganzen Welt (von Giorgia Meloni in Italien bis zu Javier Milei in Argentinien) bezeichnen sich weder als Faschisten, noch tragen sie die gleichen Embleme oder verwenden die gleiche Rhetorik. Auch wenn einige ihrer Anhänger*innen Hakenkreuze und andere faschistische Symbole schwingen, sind die meisten von ihnen vorsichtiger. Sie tragen weder Militäruniformen, noch rufen sie das Militär aus den Kasernen zu Hilfe. Ihre Politik kennzeichnet eine moderne Rhetorik über Entwicklung und Handel sowie das Versprechen von Arbeitsplätzen und sozialem Wohlstand für die eigene Bevölkerung. Sie zeigen mit dem Finger auf den neoliberalen Pakt der alten Parteien des Liberalismus und des Konservatismus und verspotten sie für ihr Elitedenken. Sie erheben Personen, die nicht zu den Eliten gehören, zu Retter*innen, Männer und Frauen, die ihrer Meinung nach endlich für die abgehängten prekären Arbeitnehmer*innen und die untergegangenen Mittelschichten sprechen werden. Sie sprechen wütend, um sich von den alten Parteien des Liberalismus und des Konservatismus abzugrenzen, die ohne Emotionen über die Zukunft sprechen.
Dies wirft die Frage auf, ob die Führer*innen dieser «extremen Rechten eines bestimmten Typs» – einer neuen Art von Rechten, die eng mit dem Liberalismus verbunden ist – etwas besonders Einzigartiges tun. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass sie lediglich auf dem Fundament aufbauen, das von den farblosen Führungen der alten Parteien des Liberalismus und Konservativismus errichtet wurde. Zum Beispiel haben die alten Parteien bereits:
A. das Sozialgefüge durch Privatisierung und Deregulierung dezimiert, die Gewerkschaften durch eine Politik der Uberisierung geschwächt und Unsicherheit und Atomisierung in der Gesellschaft geschaffen.
B. eine Politik durchgesetzt, die die Inflation erhöht und die Löhne drückt, während sie den Reichtum einiger weniger durch eine laxe Steuerpolitik und steigende Aktienmärkte vergrößert hat.
C. den Repressionsapparat des Staates gestärkt und versucht, abweichende Meinungen zu unterdrücken, auch indem sie diejenigen ins Visier nimmt, die die Arbeiterbewegung wieder stärken wollen.
D. zu Krieg und Zerstörung ermutigt, indem sie beispielsweise ein Friedensabkommen in der Ukraine verhindert und den US-israelischen Völkermord an den Palästinensern unterstützt haben.
Eine solche Wutpolitik ist in der Gesellschaft bereits verankert, obwohl nichts davon von der extremen Rechten eines bestimmten Typs geschaffen wurde. Eine Welt der Wut ist das Produkt des neoliberalen Paktes der alten Parteien des Liberalismus und des Konservatismus. Weder die Alternative für Deutschland (AfD) noch der französische Rassemblement national oder Trump in seiner ersten Amtszeit haben diese Welt geschaffen, so abstoßend ihre Politik auch sein mag. Wenn diese Gruppen die Macht im Staat gewinnen, werden sie zu Nutznießer*innen einer Gesellschaft der Wut, die der neoliberale Pakt hervorgebracht hat.
Die Sprache von Trump und seiner politischen Familie ist dennoch alarmierend. Sie sprechen mit beiläufiger Wut, und sie richten diese Wut gegen die Schwachen (insbesondere Migrant*inne und Andersdenkende). Trump spricht zum Beispiel von Flüchtlingen, als wären sie Ungeziefer, das ausgerottet werden muss. In der Rhetorik der extremen Rechten ist eine ältere, dekadente Sprache zu hören, die Sprache des Todes und der Unordnung. Aber das ist ihr Ton, nicht ihre Politik. Die alten Parteien des neoliberalen Paktes haben bereits ihre Militärs an die Grenzen geschickt, sind in die Slums eingedrungen, haben die Sozialhilfe und die Wohlfahrt aus den Haushalten ihrer Länder gestrichen und die Ausgaben für die Repression im In- und Ausland erhöht. Die alten Politiker des neoliberalen Paktes werden sagen, dass die «Wirtschaft» floriert, womit sie meinen, dass die Börse in Champagner schwimmt; sie sagen, dass sie die Rechte der Frauen schützen werden, verabschieden aber keine entsprechenden Gesetze; sie sagen, dass sie für Waffenstillstände sind, während sie Waffentransfers zur Fortsetzung von Krieg und Völkermord genehmigen. Der neoliberale Pakt hat die Gesellschaft bereits zerrüttet. Die Parteien der extremen Rechten schieben die Heuchelei einfach beiseite. Sie sind nicht die Antithese des neoliberalen Paktes, sondern sein genaueres Spiegelbild.
Doch irrationale Wut ist nicht die Stimmung der Menschen, die die Parteien der extremen Rechten eines bestimmten Typs wählen, ein Klischee, das von fantasielosen neoliberalen Politikern verbreitet wird. Es ist der Tonfall der führenden Politiker*innen der extremen Rechten eines bestimmten Typs, der ihnen einen Platz im fünften Kreis von Dantes Hölle einbringen würde. Sie sind die Wütenden. Ihre elitären Gegner, die Politiker*innen der alten Parteien des Liberalismus und des Konservatismus, sind die Mürrischen, unter dem Schlamm, ihre Emotionen sind gedämpft.
2017 veröffentlichte die brasilianische Stiftung Perseu Abramo eine Studie über die politischen Wahrnehmungen und Werte der Bewohner*innen der Favelas von São Paulo, aus der hervorging, dass sie eine sozialere Politik der Unterstützung und Wohlfahrt befürworten. Sie wissen, dass ihre harte Arbeit nicht zu ausreichenden Mitteln führt, und hoffen daher, dass die Politik der Regierung zusätzliche Unterstützung bietet. Diese Ansichten sollten theoretisch zu einem Wachstum der Klassenpolitik führen. Die Forscher fanden jedoch heraus, dass dies nicht der Fall war: Stattdessen hatten neoliberale Ideen die Favelas überschwemmt und die Bewohner dazu gebracht, den Hauptkonflikt nicht als einen zwischen Arm und Reich, sondern als einen zwischen dem Staat und dem Einzelnen zu sehen, wobei die Rolle des Kapitals ignoriert wurde. Die Ergebnisse dieser Studie finden sich in vielen anderen ähnlichen Untersuchungen wieder. Es ist nicht so, dass die Teile der Arbeiterklasse, die sich der extremen Rechten eines bestimmten Typs zuwenden, irrational wütend oder verblendet sind. Sie sind sich über ihre Erfahrungen im Klaren, aber sie geben dem Staat die Schuld an der Verschlechterung ihres Lebens. Kann man ihnen das verdenken? Ihr Verhältnis zum Staat wird nicht durch Sozialarbeiter oder Sozialämter geprägt, sondern durch die Bösartigkeit der Sonderpolizei, die befugt ist, ihnen Bürger- und Menschenrechte zu verweigern. Und so bringen sie den Staat mit dem neoliberalen Pakt in Verbindung und hassen ihn. Aus diesem trüben Wasser erheben sich die Politiker*innen der extremen Rechten als potenzielle Retter*innen. Es spielt keine Rolle, dass sie keine Agenda haben, um das Gemetzel, das die neoliberale Politik der alten Parteien in der Gesellschaft anrichtet, rückgängig zu machen: zumindest geben sie vor, sie ebenfalls zu hassen.
Die Agenda der extremen Rechten eines bestimmten Typs besteht jedoch nicht darin, die Probleme der Mehrheit zu lösen, sondern sie zu verschärfen, indem sie der Gesellschaft eine zynische Form des Nationalismus aufzwingt, die nicht in der Liebe zu den Mitmenschen, sondern im Hass auf die Schwachen wurzelt. Dieser Hass gibt sich dann als Patriotismus aus; die Nationalflagge wird immer größer, und die Begeisterung für die Nationalhymne steigt um ein Vielfaches. Der Patriotismus beginnt nach Wut und Bitterkeit zu riechen, nach Gewalt und Frustration, nach dem Sumpf der Hölle. Es ist eine Sache, patriotisch für Flaggen und Hymnen zu sein, aber es ist eine andere, patriotisch gegen Hunger und Hoffnungslosigkeit zu sein.
Der Mensch sehnt sich danach, anständig zu sein, aber diese Sehnsucht wird von Verzweiflung und Ressentiments im Sumpf erstickt. Dante und sein Führer bahnen sich schließlich ihren Weg durch die Kreise der Hölle, überqueren Ströme und Abgründe, um zu einem kleinen Loch am Firmament zu gelangen, von dem aus sie die Sterne sehen und einen ersten Blick auf das Paradies erhaschen können. Wir sehnen uns danach, die Sterne zu sehen.
Herzlichst,
Vijay