Der achtundvierzigste Newsletter (2024)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Endlich, noch vor dem Ende der Geschichte, hat der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) Haftbefehle gegen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu und seinen ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit erlassen. In der Anklageschrift heißt es, es gebe «hinreichende Gründe für die Annahme, dass beide Personen der Zivilbevölkerung im Gazastreifen absichtlich und wissentlich den Zugang zu Sachen verwehrt haben, die für ihr Überleben unentbehrlich sind, darunter Lebensmittel, Wasser, Medikamente und medizinische Versorgung sowie Treibstoff und Strom». Das Gericht stellte fest, dass es hinlängliche Gründe für die Annahme gibt, dass die beiden Männer für das Kriegsverbrechen des Aushungerns als Methode der Kriegsführung, für Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Mord, Verfolgung und andere unmenschliche Handlungen) und für das Kriegsverbrechen der vorsätzlichen Leitung eines Angriffs gegen die Zivilbevölkerung «strafrechtlich verantwortlich» sind. Nahezu umgehend verurteilte US-Präsident Joe Biden das Vorgehen des Gerichtshofs und erklärte, dass die Ausstellung von Haftbefehlen gegen israelische Führungspolitiker*innen durch den IStGH empörend sei. Die Vereinigten Staaten, so Biden, «werden immer an der Seite Israels stehen».
Nur einen kurzen Spaziergang von Bidens Weißem Haus entfernt befindet sich Freedom House, eine 1941 gegründete Einrichtung, die hauptsächlich vom US-Außenministerium finanziert wird. Jedes Jahr veröffentlicht Freedom House seinen «Freedom in the World»-Index, in dem anhand verschiedener Daten beurteilt wird, ob ein Land «frei», «teilweise frei» oder «nicht frei» ist. Gegner der Vereinigten Staaten – wie China, Kuba, Iran, Nordkorea und Russland – werden durchweg als «nicht frei» eingestuft, auch wenn sie über Wahlverfahren und gesetzgebende Organe verschiedener Art verfügen (bei den iranischen Parlamentswahlen 2024 kandidierten beispielsweise 15 200 Kandidat*innen für 290 Sitze in der Beratenden Versammlung; in Kuba wurden im vergangenen Jahr die 470 Sitze der Nationalversammlung der Volksmacht von 75,87 % der Wahlberechtigten gewählt). Der Index 2024 bewertet Israel mit einer «globalen Freiheitsnote» von 74/100 und erklärt es zum einzigen «freien» Staat in der Region, obwohl die Autor*innen anmerken, dass in Israel «die politische Führung und viele in der Gesellschaft arabische und andere ethnische oder religiöse Minderheiten diskriminiert haben, was zu systemischen Ungleichheiten in Bereichen wie Infrastruktur, Strafjustiz, Bildung und wirtschaftliche Chancen geführt hat». Nach den Maßstäben dieses vom US-Außenministerium finanzierten Index, der routinemäßig verwendet wird, um Länder auf der ganzen Welt als unfrei zu verunglimpfen, wird ein Apartheidsystem, das auf Besatzung und nun Völkermord aufgebaut ist, als vorbildliche Demokratie betrachtet.
Indexe wie die von Freedom House sind nicht so neutral, wie sie scheinen. Die Konzeption des Index – der auf den subjektiven Einschätzungen von Analyst*innen und Berater*innen aus der Welt der westlichen Think Tanks beruht – führt oft zu vorgefassten Ergebnissen. Während Freedom House behauptet, sich auf den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1966) zu berufen, ignoriert es den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1966). Letzterer würde ein viel umfassenderes Verständnis von Demokratie erfordern als die bloße Abhaltung von Wahlen und die Existenz mehrerer politischer Parteien. Allein Artikel 11 des zweiten Paktes würde den Begriff der Demokratie um das Recht auf Wohnung und das Recht, frei von Hunger zu sein, erweitern. Wie in Artikel 4 festgestellt wird, besteht das Ziel des Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte darin, «das allgemeine Wohl in einer demokratischen Gesellschaft» zu fördern. Der Begriff «Demokratie» wird hier im weitesten Sinne verwendet und geht entschieden über das einfache Wahlrecht hinaus. Und in Bezug auf die Wahlbeteiligung gibt es im Freedom-House-Index kaum Bedenken wegen der hohen Zahl der Nichtwähler*innen in liberalen Demokratien oder wegen des Zusammenbruchs einer lebendigen Medienkultur, die die politischen Parteien und Anführer*innen zur Rechenschaft ziehen könnte.
Aber was kümmert es diejenigen, die hinter solchen Indexen stehen? Sie halten sich für die Herrscher*innen des Universums. Die Reaktionen auf die IStGH-Anklage aus den Vereinigten Staaten und Deutschland – den beiden Ländern mit den größten Waffenlieferungen an Israel während dieses Völkermords – waren erwartbar, aber dennoch schockierend. Bidens unbekümmerte Reaktion bestätigt, dass die Vereinigten Staaten das Ausmass ihrer Gefühllosigkeit entweder nicht verstehen oder sich nicht darum scheren, und dass die Vereinigten Staaten nicht begreifen, dass ihre Ablehnung der IStGH-Haftbefehle der letzte Nagel im Sarg der «regelbasierten internationalen Ordnung» der USA ist. Zur Frage der Kaltschnäuzigkeit: Vor den US-Präsidentschaftswahlen 2024 erklärte die Regierung Biden, dass Israel innerhalb von dreißig Tagen Hilfsgüter in den Gazastreifen liefern müsse, andernfalls würde ein Waffenstillstand verhängt, aber diese Frist verstrich ohne große Bedenken. Die «regelbasierte internationale Ordnung» war schon immer eine ziemliche Farce. Im Jahr 2002, während des von den USA geführten Krieges gegen den Terror, debattierte der US-Kongress darüber, ob ein*e US-Soldat*in oder CIA-Agent*in wegen Kriegsverbrechens angeklagt werden könnten. Um diesen Soldat*innen oder Agent*innen zu immunisieren, verabschiedete der US-Kongress den American Servicemembers’ Protection Act, der weithin als «Haager Invasionsgesetz» bezeichnet wurde. Das Gesetz besagt zwar nicht, dass die USA in die Niederlande einmarschieren können, um ihr Personal aus dem Internationalen Strafgerichtshof zu befreien, aber es besagt, dass der US-Präsident «befugt ist, alle notwendigen und angemessenen Mittel einzusetzen, um die Freilassung einer Person zu erwirken, die vom Internationalen Strafgerichtshof, in dessen Auftrag oder auf dessen Ersuchen festgenommen oder inhaftiert wurde». Etwa zum Zeitpunkt der Verabschiedung dieses Gesetzes zogen sich die Vereinigten Staaten offiziell aus dem Römischen Statut (1998) zurück, mit dem der IStGH gegründet wurde.
Sowohl die US-Senatoren Tom Cotton als auch Lindsey Graham haben als Reaktion auf die Ausstellung von Haftbefehlen gegen Netanjahu und Gallant durch den IStGH das Haager Invasionsgesetz geltend gemacht, wobei Graham so weit ging zu sagen, dass der US-Senat Sanktionen verhängen sollte, sogar gegen Verbündete wie Kanada, die so frech waren, die Aufrechterhaltung der Haftbefehle vorzuschlagen. Wenn die USA die IStGH-Haftbefehle ignorieren, dann haben sie der Welt endgültig mitgeteilt, dass sie nicht an die Regeln glauben oder dass die Regeln nur dazu da sind, andere zu disziplinieren und nicht sie selbst. Es ist bemerkenswert, die Liste der internationalen Verträge zu sehen, die die Vereinigten Staaten entweder nie unterzeichnet oder nie ratifiziert haben. Einige wenige Beispiele reichen aus, um ihre Missachtung einer echten, auf Regeln basierenden internationalen Ordnung zu verdeutlichen:
- Übereinkommen zur Unterdrückung des Menschenhandels und der Ausbeutung der Prostitution anderer (1949, nie unterzeichnet).
- Übereinkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (1951, nie unterzeichnet).
- Übereinkommen gegen Diskriminierung im Bildungswesen (1960, nie unterzeichnet).
- Übereinkommen über die Einwilligung in die Eheschließung, das Mindestalter für die Eheschließung und die Registrierung von Eheschließungen (1962, unterzeichnet, aber nie ratifiziert).
- Übereinkommen über die Nichtanwendbarkeit der Verjährungsfristen auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (1968, nie unterzeichnet).
- Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (1982, nie unterzeichnet).
- Basler Übereinkommen über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung von gefährlichen Abfällen und ihrer Entsorgung (1989, unterzeichnet, aber nie ratifiziert).
- Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2006, unterzeichnet, aber nie ratifiziert).
Noch erschreckender sind die Rüstungskontrollübereinkommen, deren Unterzeichnung die Vereinigten Staaten entweder verweigert haben oder aus denen sie sich einseitig zurückgezogen haben:
- Anti-Ballistic Missile (ABM)-Vertrag (1972, aufgekündigt 2002).
- Vertrag über nukleare Mittelstreckenwaffen (INF) (1987, zurückgetreten 2019).
- Minenverbotsvertrag (1997, nie unterzeichnet).
- Übereinkommen über Streumunition (2008, nie unterzeichnet).
- Vertrag über den Waffenhandel (2013, unterzeichnet, aber 2019 zurückgezogen).
Der Konflikt um die Ukraine hat sich unter anderem so sehr verschärft, weil die USA einseitig aus dem ABM-Vertrag und dem INF-Vertrag ausgestiegen sind. Russland hatte mehrfach deutlich gemacht, dass das Fehlen eines Rüstungskontrollregimes für nukleare Mittelstreckenraketen eine Bedrohung für seine Großstädte darstellen würde, wenn seine Nachbarn der Nordatlantikvertragsorganisation (NATO) beitreten würden. Am 18. November erlaubte Biden der Ukraine, in einer provokativen und gefährlichen Aktion Mittelstreckenraketen auf russisches Territorium abzufeuern, was eine heftige Reaktion Russlands auf die Ukraine zur Folge hatte. Hätte sich Russland entschlossen, als Vergeltung eine dieser Raketen auf einen US-Stützpunkt in Deutschland abzufeuern, würden wir uns bereits mitten in einem nuklearen Winter befinden. Die Missachtung des Rüstungskontrollregimes durch die USA ist nur ein Teil ihrer absoluten Missachtung jeglichen internationalen Rechts, die durch ihren ausgestreckten Stinkefinger gegenüber dem Internationalen Strafgerichtshof besiegelt wird.
1982 veröffentlichte der südafrikanische Freiheitskämpfer und Dichter Mongane Wally Serote (geb. 1944), der in Botswana lebte und mit dem Medu Art Ensemble zusammenarbeitete (über welches wir letztes Jahr ein Dossier veröffentlichten), in seinem epischen Buch The Night Keeps Winking den Satz «Die Zeit ist abgelaufen». «Viele von uns sind in den Wahnsinn getrieben worden», schrieb er, weil «wir Menschen sind und dies unser Land ist». Serote schrieb über Südafrika, aber wir können seine Vision jetzt auf Palästina, ja auf die ganze Erde ausdehnen. Und dann schreibt Serote:
Zu viel Blut ist geflossen
Bitte, meine Landsleute, kann jemand ein Wort der Weisheit sprechen ...
Oh, wir haben uns mit dem Grauen vertraut gemacht
das Herz unseres Landes
wenn es pulsiert
tickende Zeit
verwundet es uns
Meine Landsleute, kann jemand, der begreift, dass es jetzt zu spät ist
der weiß, dass Ausbeutung und Unterdrückung Gehirne sind,
die nur Gewalt kennen
kann uns jemand lehren, wie man die Wunden heilt und kämpft.
Es ist an der Zeit, uns wieder der «großen Wunde», wie Frantz Fanon 1959 schrieb, zuzuwenden, sie zu heilen, und zu kämpfen.
Zu Beginn dieses Jahres hat Serote ein Gedicht für Palästina geschrieben, das ich anlässlich des Internationalen Tages der Solidarität mit Palästina (29. November) teilweise wiedergebe; an diesem Tag organisieren wir bei Tricontinental eine Ausstellung mit den Werken des palästinensischen Künstlers Ibraheem Mohana und zwanzig Kindern, denen er in Gaza inmitten des israelischen Völkermords Kunstunterricht erteilt hat.
Wir hören in unseren Ohren die Geräusche der Sirenen und Explosionen
Wenn sie unser Auge und unser Gehör sprengen
und das rote Feuer
flackert in der Luft mit der Kraft eines Sturms
Das rotglühende Feuer hält Menschenfleisch in seinem rotglühenden Tanz
Dem ging ein dicker schwarzer Rauch voraus
Der brüllt und braust
Auf
Ah
Menschliches Leben
Und dann endet es…
Ach Palästina!
Sei.
Herzlichst,
Vijay