Der fünfzigste Newsletter (2024)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Der achte Kontinent ist der verdorbene Kontinent. Ihr und ich, wir waren noch nie dort, wir haben nur Gerüchte darüber gehört. Auf diesem Kontinent gibt es Geldströme, in denen sich die Konzernchef*innen baden und aus denen sie alles herausholen, was sie wollen, um ihre Macht, ihre Privilegien und ihren Besitz zu vergrößern. Die Konzernchef*innen gehen raus in die Welt, um sich ihren Reichtum anzueignen und ihn auf ihren verdorbenen Kontinent zu bringen. Was übrig bleibt, ist Staub und Schatten, kaum genug für das Überleben der Menschen, gerade genug, damit sie weiterarbeiten und mehr gesellschaftlichen Reichtum für den verdorbenen Kontinent produzieren können. Jeder sieht, dass dieser Reichtum auf diesen Kontinent abgewandert ist, aber nur wenige wollen es wahrhaben. Die meisten geben sich selbst die Schuld an ihrer Armut und nicht der Struktur von Korruption und Plünderung, die dem neokolonialen kapitalistischen System innewohnt. Losgelöst vom sozialen Kampf ist es viel einfacher, ahnungslos zu leben, ohne dieses gefährliche Wissen, dieses unbändige prometheische Feuer.
Korruption ist wie Rost, der das Metall der Gesellschaft zerfrisst. Je größer die Korruption, desto tiefgreifender ist der Kollaps der gesellschaftlichen Institutionen und der sozialen Gemeinschaft. Der Anreiz, sich an die Regeln zu halten, schwindet, wenn immer mehr Personen aus der Elite und deren enge Vertraute von Regelverletzungen profitieren. Bestechung und Vetternwirtschaft sind die Umrisse der modernen Korruption. Die Todsünden der Gier und des Stolzes werden belohnt, während die Tugenden der Ehrlichkeit und des Anstands als «naiv» verspottet werden. Vor hundert Jahren sagte Mahatma Gandhi, dass «der Indikator für die Ordnung in einem Land nicht die Anzahl seiner Millionäre ist, sondern die Abwesenheit von Hunger unter seinen Massen». Nach diesem Maßstab zeigt der Indikator für die Ordnung in der heutigen Welt absolutes Chaos an, das vom Ehrgeiz der Reichen getrieben wird, der erste Billionär der Welt zu werden, während die weltweiten Hungerraten astronomisch ansteigen. Den Reichen wird erlaubt, reich zu bleiben und sogar noch reicher zu werden, und sie haben die Korruption institutionalisiert, um ihre Ambitionen zu fördern.
In unserem Dossier Nr. 82, How Neoliberalism Has Wielded ‘Corruption‘ to Privatise Life in Africa («Wie der Neoliberalismus Korruption benutzt, um das Leben in Afrika zu privatisieren»), untersuchen wir das Problem der Korruption, das nicht nur die Integrität der öffentlichen Institutionen, sondern auch der Gesellschaft im Allgemeinen bedroht hat. Die Hauptthese ist, dass seit dem Beginn der neoliberalen Ära in den 1980er bis 1990er Jahren der Begriff Korruption auf die Korruption im öffentlichen Sektor eingeengt wurde. Einer der Hauptverantwortlichen für diesen reduzierten Korruptionsbegriff ist die 1993 in Deutschland gegründete Organisation Transparency International (TI), die großen Einfluss auf das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption (2003) hatte. Seitdem haben die Regierungen des Globalen Nordens die Daten von TI genutzt, um Druck auf multilaterale Organisationen (wie den Internationalen Währungsfonds, IWF) auszuüben, damit diese den Begriff der «Korruption» zum zentralen Element ihrer Tätigkeit in den Entwicklungsländern machen. Wenn ein Land einen hohen Korruptionswert aufwies, wurde es für dieses Land teurer, sich auf den Kreditmärkten Mittel zu beschaffen, was diesen Organisationen mehr Einfluss auf die Politik und die allgemeine Regierungsführung des Landes verschaffte. Diese Organisationen sagten dem Entwicklungsland, dass es seine öffentlichen Institutionen reformieren müsse, um seine Korruptionsrate zu verbessern, indem es beispielsweise die Größe der öffentlichen Verwaltung – inklusive, überraschenderweise, der staatlichen Regulierungsbehörden – und die Zahl der Staatsbediensteten insgesamt verringert. Seit den 1990er Jahren verlangte der IWF von den Entwicklungsländern, dass sie ihre Lohnkosten für die Beschäftigten des öffentlichen Sektors senken, was eine wichtige Voraussetzung für die Gewährung von Krediten und finanzieller Unterstützung sei. Da sie so dringend Mittel zur Deckung ihrer Auslandsschulden benötigen, haben sich viele Länder dieser Bedingung unterworfen und ihren öffentlichen Sektor verkleinert. Heute sind im Durchschnitt 21 % der europäischen Arbeitnehmer*innen im öffentlichen Sektor beschäftigt, während es in Mali nur 2,38 %, in Nigeria 3,6 % und in Sambia 6,7 % sind, was wiederum die Fähigkeit dieser Staaten einschränkt, große multinationale Unternehmen auf dem afrikanischen Kontinent zu verwalten und zu regulieren. Dieser krasse Gegensatz ist der Grund, warum sich unser Dossier auf den afrikanischen Kontinent konzentriert.
Heute definiert die afrikanische Wissenschaft nur selten die Bedingungen der afrikanischen Realität. Die Konzepte des Neokolonialismus – wie «Strukturanpassung», «Marktliberalisierung», «Korruption» und «gute Regierungsführung» – werden dem Kontinent und seinen Intellektuellen gewaltsam aufgezwungen, wobei jede ernsthafte Erwähnung des Erbes des Kolonialismus, der Kämpfe um die staatliche Souveränität und die Wiedererlangung der Würde der Menschen sowie der Entwicklungstheorien, die aus diesen Geschichten und Kämpfen hervorgehen, ahistorisch ausgeblendet wird. Von vornherein besteht die rassistische Überzeugung, dass afrikanische Staaten korrupt sind und dass auch ohne staatliche Institutionen irgendwie Wachstum und Entwicklung möglich ist. Doch wenn staatliche Institutionen ausgehöhlt werden, profitieren ausländische multinationale Unternehmen am meisten davon.
Afrika ist ein rohstoffreicher Kontinent und beherbergt rund 30 % der weltweiten Mineralienreserven (darunter 40 % des weltweiten Goldes, bis zu 90 % des Chroms und Platins und die größten Kobalt-, Diamanten-, Platin- und Uranreserven), 8 % des weltweiten Erdgases und 12 % der weltweiten Ölreserven, außerdem verfügt er über 65 % des weltweiten Ackerlandes und 10 % der internen erneuerbaren Süßwasserquellen des Planeten. Dennoch waren die afrikanischen Staaten – vor allem aufgrund der Politik der Kolonialzeit und ihrer Fortsetzung in der neokolonialen Periode – nicht in der Lage, diese Ressourcen für ihre eigene Entwicklung zu nutzen. Die herrschenden Eliten in diesen Nationalstaaten haben ihre Souveränität an enorm mächtige multinationale Konzerne (MNCs) abgegeben, deren Gewinne weit über das Bruttoinlandsprodukt dieser Staaten hinausgehen. Die multinationalen Konzerne deklarieren nur einen Bruchteil ihrer Gewinne, von denen etwa zwei Drittel «falsch bewertet» sind und ein Großteil in Steueroasen fließt. Aus einem Bericht aus dem Jahr 2021 geht beispielsweise hervor, dass sich die Kapitalflucht aus dreißig afrikanischen Ländern zwischen 1970 und 2018 auf insgesamt 2 Billionen US-Dollar (in US-Dollar 2018) belief, während die Afrikanische Entwicklungsbank feststellte, dass die illegalen Finanzabflüsse aus Afrika zwischen 1980 und 2009 von 1,22 auf 1,35 Billionen US-Dollar stiegen. Heute belaufen sich die illegalen Finanzströme aus Afrika auf schätzungsweise 88,6 Milliarden US-Dollar pro Jahr.
Die herrschenden Eliten in diesen afrikanischen Staaten kommen diesen Firmen entgegen, oft weil sie bestochen werden, damit sie bei der Korruption der Unternehmen ein Auge zudrücken. Im Jahr 2016 berichtete die Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Afrika, dass 99,5 % der Bestechungsgelder an afrikanische Beamt*innen von nicht-afrikanischen Unternehmen gezahlt werden, und legte nahe, dass große Bergbaukonzerne knietief in der Bestechungsindustrie stecken. Die Bestechung von Unternehmen zahlt sich auf jeden Fall aus: Die Rendite, die westliche Rohstoffabbauunternehmen erzielen, ist beträchtlich und erspart den multinationalen Konzernen Hunderte von Milliarden an zu zahlenden Steuern. Mit anderen Worten: Afrikas herrschende Eliten verscherbeln ihre Länder billig. Währenddessen bleibt für die Kinder, die über dem Kupfer und dem Gold leben, nichts übrig. Sie können die Verträge, die ihre Regierungen mit den Bergbauunternehmen schließen, nicht lesen. Und viele ihrer Eltern können es auch nicht.
Auf dem verdorbenen Kontinent der kümmert man sich nicht um die Korruptionsflut, die die Welt überschwemmt. Man kümmert sich nicht um den beiläufigen Diebstahl von Hunderten von Milliarden Dollar durch Mechanismen, die von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften abgesegnet und von multilateralen Agenturen legalisiert wurden, die den kleinsten Verstoß im öffentlichen Sektor des Globalen Südens wittern. Es wird kein Gedanke an Kolonialismus und Neokolonialismus verschwendet, Worte, die auf dem Kontinent der Widerlichkeit keine Bedeutung haben.
In seinem bemerkenswerten Buch Sounds of a Cowhide Drum (1971) veröffentlichte der südafrikanische Dichter Oswald Mbuyiseni Mtshali das Gedicht «Always a Suspect». Dieses Gedicht befasst sich mit einem der meistverbreiteten Aspekte des Rassismus – der Unterstellung, dass ein Schwarzer ein Dieb ist. Es ist nie der koloniale Plünderer, der des Diebstahls beschuldigt wird, sondern die Kolonisierten, die selbst Opfer des Diebstahls ihres Landes und ihres Reichtums sind. Mtshalis Gedicht veranschaulicht, wie die rassistische Unterstellung der afrikanischen Korruption bis in den Alltag hineinreicht:
Ich stehe am Morgen auf
und ziehe mich an wie ein Gentleman -
Ein weißes Hemd, eine Krawatte und einen Anzug.
Ich gehe auf die Straße
und werde von einem Mann empfangen
der mir sagt, ich solle mich ausweisen.
Ich zeige ihm
das Dokument, das meine Existenz belegt
um geprüft und abgenickt zu werden.
Dann betrete ich das Foyer des Gebäudes
und ein Kommissar versperrt mir den Weg.
«Was willst du?»
Ich stapfe über die Bürgersteige der Stadt
Seite an Seite mit «Madam»
die ihre Handtasche verschiebt
von meiner Seite zur anderen
und mich mit Augen ansieht, die sagen:
»Ha! Ha! Ich weiß, wer du bist;
unter diesen feinen Kleidern
tickt das Herz eines Diebes».
Herzlichst,
Vijay