Der zweiundfünfzigste Newsletter (2024)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Schmerz rinnt durch die Arterien der globalen Gemeinschaft. Tag um Tag verstreicht, während der Völkermord am palästinensischen Volk weitergeht und die Konflikte in der Region der Großen Seen in Afrika und im Sudan eskalieren. Immer mehr Menschen rutschen in die absolute Armut ab, während die Gewinne der Rüstungsunternehmen in die Höhe schnellen. Diese Tatsachen haben die Gesellschaft verhärtet, so dass die Menschen den Kopf einziehen und die Schrecken, die sich in der Welt abspielen, ignorieren. Die grimmige Missachtung des Leids anderer ist zu einem Mittel geworden, um sich vor der Inflation des Leids zu schützen. Was kann man gegen das Elend tun, das das Leben auf dem Planeten bestimmt? Was kann ich tun? Was kannst du tun?
Im Jahr 2015 schrieb die palästinensische Dichterin Dareen Tatour das Gedicht Qawim ya sha’abi, qawimhum («Leiste Widerstand, mein Volk, leiste ihnen Widerstand»), für das sie vom israelischen Staat verhaftet und eingesperrt wurde. Ein Gedicht, das einen ins Gefängnis bringen kann, ist ein mächtiges Gedicht. Ein Staat, der durch ein Gedicht bedroht wird, ist ein unmoralischer Staat.
Leiste Widerstand, mein Volk, leiste ihnen Widerstand.
In Jerusalem verband ich meine Wunden und hauchte Gott meine Schmerzen ein.
Ich trug die Seele in meinen Händen
für ein arabisches Palästina.
Ich werde mich nicht mit der «friedlichen Lösung» zufrieden geben,
ich werde meine Fahnen nicht senken
bis ich sie aus meinem Heimatland vertrieben habe
und sie für immer in die Knie zwingen werde.
Leiste Widerstand, mein Volk, leiste ihnen Widerstand.
Leistet Widerstand gegen den Raub der Siedler
und folgt der Karawane der Märtyrer.
Zerreißt die schändliche Verfassung
die uns unbarmherzige Demütigung auferlegt
und uns hindert, unsere Rechte wiederzuerlangen.
Sie verbrannten unschuldige Kinder;
Hadeel haben sie in aller Öffentlichkeit niedergeschossen,
töteten sie am helllichten Tag.
Leiste Widerstand, mein Volk, leiste ihnen Widerstand.
Wehr dich gegen die Angriffe der Kolonialisten.
Achte nicht auf ihre Agenten unter uns
die uns mit Illusionen von Frieden fesseln.
Hab keine Angst vor den Merkava [Panzer der israelischen Armee];
die Wahrheit in deinem Herzen ist stärker,
Solange du Widerstand leistet in einem Land
das Überfälle und Siege erlebt hat.
Ali rief aus seinem Grab:
Leiste Widerstand, mein rebellisches Volk,
schreib mich als Prosa auf das Agarholz,
denn du bist die Antwort auf meine letzte Frage geworden.
Leiste Widerstand, mein Volk, leiste ihnen Widerstand.
Leiste Widerstand, mein Volk, leiste ihnen Widerstand.
Der Name «Hadeel» in dem Gedicht bezieht sich auf Hadeel al-Hashlamoun (18 Jahre), die am 22. September 2015 von einem israelischen Soldaten erschossen wurde. Diese Ermordung fand zeitgleich mit einer Welle von Schießereien – viele davon tödlich – gegen Palästinenser*innen durch israelische Soldat*innen an Kontrollpunkten im Westjordanland statt. An diesem Tag kam Hadeel zum Checkpoint 56 in der al-Shuhada-Straße in Hebron (Besetztes Palästinensisches Gebiet). Der Metalldetektor piepte, und die Soldat*innen forderten sie auf, ihre Tasche zu öffnen, was sie auch tat. Darin befanden sich ein Telefon, ein blauer Pilot-Kugelschreiber, ein braunes Federmäppchen und andere persönliche Gegenstände. Ein Soldat schrie sie auf Hebräisch an, was sie nicht verstand. Der 34-jährige Fawaz Abu Aisheh, der sich in der Nähe befand, ging dazwischen und erklärte ihr, was gesagt wurde. Weitere Soldat*innen kamen hinzu und richteten ihre Gewehre auf Hadeel und Fawaz. Ein Soldat gab einen Warnschuss ab und schoss dann Hadeel in das linke Bein.
Zu diesem Zeitpunkt gab ein Soldat, der behauptete, ein Messer gesehen zu haben, mehrere Schüsse in die Brust von Hadeel ab, die kurz zuvor noch stehend fotografiert worden war. Nachdem sie einige Zeit am Boden gelegen hatte, wurde sie in ein Krankenhaus gebracht, wo sie an Blutverlust und Multisystemversagens infolge der Schusswunden starb. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und B’Tselem erklärten, es sei überflüssig, nach dem Messer zu fragen, es habe sich bei Hadeel um eine «außergerichtliche Hinrichtung» gehandelt (ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die Zeugenaussagen über das Messer widersprüchlich waren). Tatours Darstellung der Hinrichtung von Hadeel am helllichten Tag ist eine eindringliche Erinnerung an die Wellen der Gewalt, die das tägliche Leben der Palästinenser*innen prägen.
Einen Monat nach der Ermordung von Hadeel traf ich eine Gruppe Jugendlicher in einem Flüchtlingslager bei Ramallah. Sie erzählten mir, dass sie kein Ventil für ihre Frustration und ihre Wut sehen. Was sie jedoch sehen, sei die tägliche Demütigung ihrer Familien und Freund*innen durch die Besatzungsmacht, die sie zur Verzweiflung treibt. «Wir müssen etwas tun», sagt Nabil. Seine Augen sind müde. Er sieht älter aus als ein Teenager. Er hat Freund*innen durch israelische Gewalt verloren. «Letztes Jahr sind wir in einem friedlichen Protest nach Qalandiya marschiert», erzählt Nabil. «Sie haben auf uns geschossen. Mein Freund starb». Die koloniale Gewalt drückt auf sein Gemüt. Um ihn herum werden kleine Kinder vom israelischen Militär ungestraft hingerichtet. Nabils Körper zuckt vor Unruhe und Angst.
Ich habe oft an diese Teenager gedacht, vor allem im letzten Jahr, das von der Eskalation des US-israelischen Völkermords an den Palästinenser*innen geprägt war. Ich denke an sie, weil sich die Berichte über junge Menschen wie Hadeel und Nabils Freund häufen, die von israelischen Truppen nicht nur im Gazastreifen, sondern auch im Westjordanland getötet werden.
Am 3. November 2024 kam der vierzehnjährige Naji al-Baba aus Halhul, nördlich von Hebron, mit seinem Vater Nidal Abdel Moti al-Baba von der Schule nach Hause. Sie aßen zu Mittag Molokhia, seine Lieblingsspeise, und Naji sagte zu seinem Vater, dass er Fußball spielen wolle. Naji und seine Freunde spielten neben dem Laden seines Großvaters. Israelische Soldat*innen kamen und schossen auf die Jungen, wobei sie Naji in das Becken, den Fuß, das Herz und die Schulter trafen. Nach der Beerdigung sagte Nasser Merib, der Manager des Halhul Sports Club, in dem Naji trainierte, dass er mit dem rechten Fuß stark war. «Er war ehrgeizig und träumte davon, ein Nationalspieler wie Ronaldo zu werden». Dieser Traum wurde durch die israelische Besatzung zerstört.
Der Tod eines jungen Menschen ist eine unverzeihliche Tat. Der Tod eines Kindes ist besonders schwer zu begreifen. Naji hätte Kapitän der palästinensischen Fußballmannschaft werden können. Hadeel hätte eine außergewöhnliche Wissenschaftlerin werden können. Ihre Familien sehen sich die Fotos an, die ihnen geblieben sind, und weinen. In Gaza sitzen andere Familien in Zelten und haben keine Möglichkeit, sich an ihre verlorenen Kinder zu erinnern, deren Körper ausgelöscht oder vermisst werden und deren Bilder in den Trümmern zu Asche geworden sind. So viel Tod. So viel Unmenschlichkeit.
Wenn die Zeit und der Kampf es zulassen, werden wir fähig sein, die Träume der Menschheit zum Leben zu erwecken. Aber die Nacht vor dem Morgengrauen wird lang und hart sein. Wir sehnen uns nach Menschlichkeit, aber wir wissen, dass sie nicht leicht zu erreichen ist. Kleine Stimmen rufen nach einer neuen Welt, und viele Füße marschieren, um sie zur Realität zu machen. Um dorthin zu gelangen, müssen wir Krieg und Besatzung sowie der Brutalität von Kapitalismus und Imperialismus ein Ende setzen. Wir wissen, dass wir in der Vorgeschichte leben, in der Zeit, bevor die wahre Menschheitsgeschichte beginnt. Wie sehr sehnen wir uns nach dieser sozialistischen Welt, in der Naji und Hadeel eine Zukunft vor sich haben und nicht nur ein kurzes Intermezzo in unserer Welt.
Ein frohes neues Jahr. Möge es uns der Menschlichkeit näher bringen.
Herzlichst,
Vijay