Der vierte Newsletter (2025)

Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Seit Jahrzehnten ist man sich darüber im Klaren, dass die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und dem Washington-Konsens vorgeschlagenen Entwicklungsmodelle – Verschuldung, Austerität, Strukturanpassung – einfach nicht funktionieren. Die lange Geschichte der Widrigkeiten, die ehemalige Kolonialländer erlebt haben, ist noch nicht vorbei. Ein Blick auf die Zahlen der Maddison Project Database 2023 zeigt, dass das weltweite Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Kaufkraftparitäten (KKP) zwischen 1980 und 2022 um 689,9 % gestiegen ist (von 18,8 Billionen Dollar auf 148,5 Billionen Dollar). Im gleichen Zeitraum sind die weltweiten Armutsraten jedoch nicht im gleichen Maße zurückgegangen, was belegt, dass die Vorteile des globalen Wirtschaftswachstums nicht effizient verteilt worden sind. Die einzige Ausnahme von diesem Trend ist China. Der jüngste Bericht der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) mit dem Titel A World of Debt (Eine Welt voller Schulden) zeigt uns, dass die weltweite Staatsverschuldung mit 97 Billionen Dollar (2023) ein «Rekordhoch» erreicht hat und dass die Staatsverschuldung in den Entwicklungsländern seit 2010 «doppelt so schnell wie in den Industrieländern» gestiegen ist. Es überrascht nicht, dass den Ländern des Globalen Südens seit Jahrzehnten von Institutionen wie der Weltbank und dem IWF gesagt wird, dass die einzige Möglichkeit, aus den Schulden herauszukommen, die Aufnahme von Krediten ist – also mehr Schulden zu machen. Im Jahr 1998 schrieb das Wall Street Journal unverblümt, dass der IWF «keine finanziellen Brände bekämpft, sondern sie mit Benzin übergießt».

1980 organisierte die Regierung von Tansania unter der Leitung von Präsident Julius Nyerere die Süd-Nord-Konferenz über das internationale Währungssystem und die neue internationale Ordnung. Aus dieser Konferenz ging die Arusha-Initiative hervor, die die Schaffung einer neuen internationalen Währungsbehörde forderte. Sie sollte unter demokratischer Leitung und Kontrolle stehen und eine internationale Währungseinheit haben, die sowohl als internationales Tauschmittel als auch als primäre Währungsreserve dienen würde.
«Die Welt kann sich nicht länger eine Konstellation leisten», so die Arusha-Initiative, «in der ein Land in der Position ist, seine eigene Währung aufzuwingen und in der unkontrollierte internationale Geldschöpfung und transnationale spekulative Bewegungen zulässig sind».
Diese Konferenz war eine von vielen in jener Zeit, als sich die Schuldenkrise in der Dritten Welt abzeichnete und klar war, dass die politischen Vorgaben des IWF nur Elend und nicht Entwicklung bringen würden. «Wann ist der IWF zu einem internationalen Finanzministerium geworden?», fragte Nyerere auf dieser Konferenz. «Wann haben die Nationen zugestimmt, ihm ihre Entscheidungsbefugnis zu überlassen? Die Probleme meines Landes und anderer Länder der Dritten Welt sind auch ohne die politische Einmischung von IWF-Beamten schwerwiegend genug. Wenn sie schon nicht helfen können, sollten sie wenigstens aufhören, sich einzumischen».

Trotz des Widerstands von Anführer*innen der Dritten Welt wie Nyerere setzte der IWF seine «Einmischung» fort. Nyerere beendete seine Ausführungen mit erhobenen Händen: «Ich glaube, die Menschen werden die weiteren Opfer und Belastungen, die uns die gegenwärtigen Bedingungen auferlegen, nur so lange ertragen, wie sie sicher sind, dass wir unser Bestes tun, um die Lasten gerecht zu verteilen und weiterhin unsere eigene Politik zu verfolgen».Aber woraus bestand «unsere eigene»Politik?
Dies wurde weder auf der Konferenz skizziert noch in den verbleibenden fünf Jahren von Nyereres Amtszeit als Präsident klar formuliert. 1986, ein Jahr nach Nyereres Ausscheiden aus dem Amt, wandte sich die neue Regierung Tansanias an den IWF und verabschiedete das Economic Recovery Programme, das die öffentlichen Ausgaben kürzte und die Devisenkontrollen liberalisierte. Da keine Alternative gegeben war, musste Tansania vor dem IWF kapitulieren und die kooperative Entwicklungspolitik von Ujamaa, die Nyerere umgesetzt hatte, aufgeben.
Alle paar Jahre durchlaufen die Länder des Globalen Südens denselben Zyklus. Nachdem sie sich dem IWF und seinem Schulden-Spar-Regime unterworfen haben, kommt es unweigerlich zu einer tiefen Krise, die zu politischen Unruhen führt. Dann tauchen neue Kräfte auf, die einen Ausweg aus der Krise versprechen, neue Regierungen übernehmen die Macht, und nach mehreren Versuchen kehren diese Länder zum IWF zurück, und der Kreislauf setzt von neuem ein. Trotz der Schaffung einer « eigenen Politik», wie Nyerere es nannte, ist das Kräfteverhältnis so unausgeglichen, dass eine unabhängige Agenda nie möglich war. Jeglicher Ruf nach einer neue internationalen Wirtschaftsordnung wurde unterdrückt, und es fehlt an ausreichender konzessionärer Finanzierung für Politiken, die nicht dem IWF-Rezept entsprechen.

In seiner letzten Rede als Präsident der Vereinigten Staaten sagte Joe Biden: «Es ist ein harter Wettstreit im Gange – um die Zukunft der Weltwirtschaft, der Technologie, der menschlichen Werte und vieles mehr». Dieser «weltweite Wettstreit», sagte er, findet zwischen den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten auf der einen Seite und «Iran, Russland, China, Nordkorea» auf der anderen Seite statt, und die Vereinigten Staaten «gewinnen» ihn. Diese Rede hat etwas Unverfrorenes an sich. Kein anderes Land spricht von einem «Wettstreit». Als ein Reporter der Agence France-Presse den Sprecher des chinesischen Außenministeriums, Guo Jiakun, zu diesen Äußerungen befragte, antwortete er ruhig: «In den vergangenen vier Jahren haben die Beziehungen zwischen China und den USA Höhen und Tiefen erlebt, sind aber im Großen und Ganzen stabil geblieben». Es gab keine Angriffe. Die Schlüsselwörter im weiteren Verlauf der Rede waren «Konsultation», «Dialog» und «Zusammenarbeit». Aber Biden hat nicht ganz Unrecht. Der Aufstieg Chinas und anderer asiatischer Länder als Quelle sowohl von Gütern als auch Finanzmitteln für die Industrialisierung im Globalen Süden hat das Kräftegleichgewicht zugunsten der Entwicklungsländer verschoben. Jetzt sind sie nicht mehr auf den IWF angewiesen. Das Gravitationszentrum des Welthandels und der Technologie verlagert sich.
Gerade weil diese Verschiebung für die Vereinigten Staaten – und das von ihnen vertretene Monopolkapital – nachteilig ist, betrachten sie die Situation als «Wettstreit», während die Länder, die zu großen Wirtschaftsmächten aufgestiegen sind, dies als ihr Recht auf Entwicklung ansehen. Wir vom Tricontinental: Institute for Social Research sehen die derzeitige Weltlage nicht als «Wettstreit», wie Biden sie beschreibt, sondern als Chance. In dem Maße, wie neue Finanz- und Investitionsquellen entstehen, werden die Länder des Globalen Südens erneut Gelegenheit haben, ihre « eigene Politik zu verfolgen», wie Nyerere es vor einem halben Jahrhundert formulierte. Wie werden diese neuen politischen Programme aussehen?
In unserem jüngsten Dossier, Towards a New Development Theory for the Global South («Für eine neue Entwicklungstheorie für den Globalen Süden», entstanden in Zusammenarbeit mit Global South Insights), argumentieren wir, dass es eine extrem hohe Korrelation zwischen dem Anteil der Nettoanlageinvestitionen am BIP und dem Wirtschaftswachstum gibt. Vereinfacht ausgedrückt, sind Investitionen in neue Anlagegüter (Gebäude, Infrastruktur oder Industriemaschinen) die Grundvoraussetzung für das Wachstum einer Wirtschaft. Darüber hinaus zeigen wir eine statistisch signifikante Korrelation zwischen dem Pro-Kopf-BIP und der Lebenserwartung. Diese Ergebnisse machen deutlich, dass ausländische Direktinvestitionen und spekulative Finanzströme allein die sozialen Indikatoren nicht verbessern werden. Die Qualität der Finanzierung ist der Schlüssel zur Entwicklungsagenda, und im Mittelpunkt steht dabei der Prozess der Industrialisierung. Kein Land hat sich ohne eine moderne Maschinenindustrie entwickelt, und – soweit wir das derzeit beurteilen können – ist es für kein Land möglich, sich zu entwickeln, ohne seine industriellen Kapazitäten auszubauen. Wir müssen investieren, um zu bauen, bauen, um zu wachsen, und wachsen, um das Leben der Menschen zu verbessern.

Unser Institut wird die nächsten Jahre damit verbringen, verschiedene Aspekte einer neuen Entwicklungstheorie zu erforschen. Wir glauben, dass diese Gelegenheit, die Biden als «Wettstreit» bezeichnet, zu wichtig ist, um sie zu verspielen. In den letzten Zeilen des Dossiers steckt eine gewisse Poesie:
Der afrikanische Revolutionär Amílcar Cabral lehrte uns, dass das Ziel der nationalen Befreiung darin besteht, «den Entwicklungsprozess der nationalen Produktivkräfte freizusetzen». Daher ist die Formulierung einer neuen Entwicklungstheorie für den Globalen Süden auch eine Rückkehr zum Ursprung unserer Kämpfe um die Befreiung von Imperialismus und Neokolonialismus. Mit ihr werden wir den Weg für die prometheischen Bestrebungen der darker nations ebnen.
Herzlichst,
Vijay