Die Lebenserwartung von Palästinenser*innen ist in den ersten drei Monaten des Völkermordes um 11,5 Jahre gesunken

Der fünfte Newsletter (2025)

Abdel Hadi el-Gazzar (Ägypten), Popular Chorus, 1949.

Liebe Freund*innen,

Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.

Die Idee des Waffenstillstands ist so alt wie die Idee des Krieges. In alten Aufzeichnungen liest man von Feuerpausen, damit die Menschen essen oder schlafen können. Die Kampfregeln entwickelten sich aus dem Verständnis heraus, dass beide Seiten sich ausruhen oder erfrischen mussten. Manchmal schloss dieses Verständnis auch das Leben von Tieren ein. Während des Osteraufstandes 1916 zum Beispiel stellten die irischen Rebellen und die britischen Truppen ihre Schießerei um St. Stephen’s Green in Dublin ein, damit James Kearney, der Parkwächter, hineingehen und die Enten füttern konnte. Es war diese caesura oder Feuerpause, die den englischen Begriff «ceasefire» populär machte.

Für die Palästinenser*innen im Gazastreifen ist jede Waffenruhe, die ein Ende des Bombardements verspricht und die Ankunft von humanitärer Hilfe (insbesondere Lebensmittel, Wasser, Medikamente und Decken) ermöglicht, eine Erleichterung. In den Tagen seit dem 19. Januar, als die vorübergehende Waffenruhe in Kraft trat, konnte die Bevölkerung des Gazastreifens in großem Umfang mit Hilfsgütern versorgt werden, wie der Sprecher des Büros der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten, Jens Laerke, sagte. Am ersten Tag der Waffenruhe fuhren 630 Lastwagen in den Gazastreifen ein – viel mehr als die fünfzig bis hundert Lastwagen pro Tag, die während der israelischen Bombardierung nur mit Mühe hineingelangten. «Mit diesen Lastwagen werden Lebensmittel angeliefert, Bäckereien eröffnet, Krankenhäuser versorgt, Wasserversorgungsnetze repariert, Unterkünfte instand gesetzt, Familienzusammenführungen durchgeführt und andere wichtige Arbeiten erledigt», so Laerke. Nach fast fünfhundert Tagen völkermörderischer Gewalt ist diese Hilfe mehr als eine Erleichterung. Sie ist eine Lebensader. Doch dieses Waffenstillstandsabkommen war erstmals im Mai 2024 vorgelegt worden, als es von der israelischen Regierung gebilligt und später von der Hamas akzeptiert wurde, bis es Netanjahu schließlich ablehnte. Die Waffen hätten damals zum Schweigen gebracht werden können.

Der Völkermord hat Palästina tiefgehend verändert. Auf der Grundlage von Schätzungen der Weltbevölkerungsprognose 2024 der Vereinten Nationen haben Tricontinental: Institute for Social Research und Global South Insights den Rückgang der palästinensischen Lebenserwartung infolge der israelischen Bombardierung des Gazastreifens analysiert und festgestellt, dass die palästinensische Lebenserwartung bei der Geburt zwischen 2022 und 2023 um 11,5 Jahre gesunken ist, von respektablen 76,7 Jahren im Jahr 2022 auf nur 65,2 Jahre im Jahr 2023. Es waren die ersten drei Monate der von den USA unterstützten israelischen Bombardierung – von Oktober bis Dezember 2023 -, die diesen schrecklichen Rückgang der gesamten Lebenserwartung bewirkten. Uns ist nicht bekannt, dass die Lebenserwartung in irgendeinem anderen Zeitraum der modernen Menschheitsgeschichte so schnell gesunken ist. Ein palästinensisches Leben ist heute mehr als siebzehn Jahre kürzer als ein israelisches. Dieser Unterschied ist größer als der zwischen Schwarzen und weißen Menschen im Apartheid-Südafrika, der 1980 fünfzehn Jahre betrug.

Elfeinhalb verlorene Jahre pro Palästinenser*in. Das sind fast 60 Millionen verlorene Jahre für die 5,2 Millionen Palästinenser*innen, die noch in Palästina sind und den Völkermord überlebt haben. Dieser Verlust ist nicht leicht wiedergutzumachen. Es wird Jahre immenser Arbeit erfordern, die palästinensische Gesellschaft wieder aufzubauen und die Lebenserwartung von vor dem Völkermord auch nur annähernd zu erreichen. Die Gesundheitssysteme müssen wieder aufgebaut werden: nicht nur die Krankenhäuser und Kliniken, die in Gaza fast vollständig zerstört wurden, sondern es müssen auch neue Ärzt*innen und Pflegekräfte ausgebildet werden, um diejenigen zu ersetzen, die getötet wurden. Die Lebensmittelversorgung muss wiederhergestellt werden: nicht nur Bäckereien, sondern auch Felder müssen entgiftet und Fischerboote repariert werden. Wohnungen müssen wieder aufgebaut werden, um die zu 92 % zerstörten oder beschädigten Häuser im Gazastreifen zu ersetzen (was die UNO als «Domizid» bezeichnet hat). Schulen müssen wiederaufgebaut werden. Das seelische Trauma, unter dem die Kinder leiden, muss geheilt werden, damit sie das Gefühl bekommen, dass diese Gebäude keine Gräber sind, sondern Orte der Sicherheit und des Lernens.

Ahmad Nawash (Palästina), The Elephant, 1989.

Die Daten sind unübersichtlich. Zehntausende Palästinenser*innen wurden in diesem Blutbad getötet, darunter mindestens 14 500 Kinder. Einem Bericht des Dänischen Flüchtlingsrats, der Agricultural Development Association und des Women’s Affairs Centre zufolge wurden zwischen Oktober 2023 und Oktober 2024 «mehr als 90 % der Bevölkerung des Gazastreifens vertrieben, wobei Einzelpersonen im Durchschnitt sechsmal und einige bis zu 19 Mal vertrieben wurden». Darüber hinaus heißt es in dem Bericht, dass die Palästinenser*innen mit Zwangsumsiedlungsbefehlen konfrontiert waren, die «unzureichend vorgewarnt» waren und um ihr Überleben kämpfen mussten, da die «als sicher ausgewiesenen Zonen bombardiert wurden und es an grundlegenden Ressourcen mangelte». Die neurologischen Probleme der Überlebenden sind extrem. «Es besteht eine anhaltende Sorge um die psychische Gesundheit aller Menschen im Gazastreifen, insbesondere der Kinder, die so stark traumatisiert sind», sagte Nebal Farsakh von der Palästinensischen Gesellschaft des Roten Halbmonds und wies darauf hin, dass «mindestens 17 000 Kinder unbegleitet oder von ihren Eltern getrennt sind». Wie wir im ersten Newsletter dieses Jahres aufzeigten, stellte ein Bericht des Community Training Centre for Crisis Management in Gaza vom Dezember 2024 fest, dass 96 % der Kinder in Gaza das Gefühl hatten, ihr stehe Tod unmittelbar bevor.

Nach einer vorläufigen Schätzung wird der Wiederaufbau des Gazastreifens 80 Milliarden Dollar kosten. Das UN-Entwicklungsprogramm hat mit der Università Iuav di Venezia eine Vereinbarung über den Entwurf eines neuen Gaza unterzeichnet, in dem vorgeschlagen wird, zunächst inmitten der Trümmer eine Kernstadt für 50.000 Menschen zu errichten und dann nach außen hin zu expandieren. Im Gazastreifen liegen mindestens 50 Millionen Tonnen Schutt, die durch die Zerstörung von mehr als zwei Dritteln der Infrastruktur des Gebiets (einschließlich 92 % der Wohneinheiten) entstanden sind und deren Beseitigung Jahre dauern wird. In den Trümmern liegen neben den Leichen vermisster Palästinenser*innen auch nicht explodierte Munition und giftige Stoffe: Es ist nicht möglich, einfach mit einer Reihe von Bulldozern von einem Ende des Gazastreifens zum anderen zu fahren.

Fadi al-Hamwi (Syrien), Gloating, 2013.

Palästinensische Institutionen haben schlicht nicht genug Geld, um den Gazastreifen wiederaufzubauen. Die arabischen Golfstaaten, die über das Geld verfügen, werden sicherlich versuchen, den palästinensischen Fraktionen im Gegenzug für jegliche Hilfe politische Zugeständnisse abzuringen. Die Länder, die Israel für die Verwüstungen, die es unter den Palästinenser*innen angerichtet hat, zur Rechenschaft ziehen wollen, verfügen nicht über den nötigen politischen Einfluss, und sie können auch nicht darauf hoffen, die Länder, die Israel bewaffnet haben (wie die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich und Deutschland), dazu zu bringen, für die mit ihrer Munition verursachten Schäden aufzukommen.

Die Verursacher des Völkermords wollen den Gazastreifen zu ihrem Immobilienspielplatz machen. US-Präsident Donald Trump sagt, der Gazastreifen sei ein «phänomenaler Ort», der derzeit wie ein «massives Abrissgebiet» aussehe, und greift damit die Einschätzung seines Schwiegersohns und Beraters für Nahoststrategie Jared Kushner vom Februar 2024 auf, wonach Gazas «Grundstücke am Wasser sehr wertvoll sein könnten». Im vergangenen Jahr erklärte der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu, dass der nördliche Teil des Gazastreifens, einschließlich Gaza-Stadt, eine Ruine bleiben und annektiert werde, während Israel den Rest des Gazastreifens kontrollieren und entlang seiner Ränder Siedlungen bauen werde. Die Siedlerbewegung, die auf eine ethnische Säuberung der Palästinenser*innen aus ist und zu Netanjahus Basis gehört, ist bereit, die Strandpromenade zu beschlagnahmen und dort ihre eigenen Siedlungen zu errichten. Der Druck auf die Palästinenser*innen, den Gaza-Streifen zu verlassen, wird trotz der vorübergehenden Waffenruhe hoch bleiben.

Dima Hajjar (Libanon), Olympia Network, ca. 2002-2004.

Palästinenser*innen, die durch diesen Horror mindestens 11,5 Jahre ihres Lebens verloren haben, werden in diesem Moment nehmen, was sie kriegen können – selbst diese fadenscheinige Waffenruhe. Aber sie verdienen mehr und werden weiter dafür kämpfen.

Aus diesem Grund begannen am 27. Januar Hunderttausende Palästinenser*innen, die im ganzen Gazastreifen verteilt waren, nach Norden zu ihren Häusern zurückzumarschieren. Sie wollen keine weitere Nakba (Katastrophe) erleben. Sie werden ihre Häuser wieder aufbauen, notfalls mit bloßen Händen.

Herzlichst,
Vijay

P. S. Die obige Grafik ist Teil einer neuen Serie von Tricontinental: Institute for Social Research und Global South Insights (GSI) mit dem Titel Facts. Jeden Monat werden wir eine neue Grafik aus dieser Serie veröffentlichen, die auf den Forschungsergebnissen des Big-Data-Systems von GSI basiert.