Der achte Newsletter (2025)

Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Es gibt Tage, an denen die Dämmerung der Ereignisse schwer auf mir lastet, und ich versuche, einen Weg zu finden, um mich in eine ruhige Ecke zurückzuziehen und mich in die Welt eines Buches zu stürzen können. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um einen Roman oder ein Geschichtsbuch handelt, solange der*die Autor*in in der Lage ist, eine Welt heraufzubeschwören, die mich aus der Flut der Grausamkeiten auf eine Insel der Fantasie entführt. In den letzten Monaten habe ich immer mehr Romane gelesen – darunter auch japanische Krimis, die ich besonders mag – und in ihnen Figuren gefunden, über die ich manchmal lachen und manchmal fassungslos die Stirn runzeln kann. Der Wahnsinn ist nicht neu in unserer Welt. Es gab ihn schon früher.
Vor mir liegen Seichō Matsumotos Ten to Sen (englischer Titel Points and Lines, 1958) und Suna no Utsuwa (englischer Titel Inspector Imanishi Investigates, 1960-1961) sowie Tetsuya Ayukawas Kuroi Hakucho (englischer Titel The Black Swan Mystery, 1961), allesamt Kriminalromane, die in der Zeit nach dem schrecklichen Einsatz der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki durch die USA im Jahr 1945 geschrieben wurden. Diese Bücher und die Filme aus der gleichen Zeit – insbesondere Gojira (Godzilla), bei dem Ishirō Honda 1954 Regie führte und das Drehbuch schrieb – zeigen die Komplexität einer post-atomaren Gesellschaft. Ich kann mir vorstellen, wie diese Autor*innen in ihren vom Krieg verwüsteten Städten mit Stift und knappem Papier versuchten, ihrer Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, ihre Detektive ernsthafte Männer aus der Arbeiterklasse, die sich mit der Dreistigkeit alter Familien auseinandersetzen müssen, die einst tief in der alten faschistischen Gesellschaftsordnung verwurzelt waren und sich nun als dynamische Kapitalist*innen neu erfanden. Diese Schriftsteller*innen kamen jedoch erst lange nach den ersten Worten, die sich aus Hiroshima selbst erhoben, von Dichter*innen wie Sankichi Tōge (1917-1953) und Sadako Kurihara (1913-2005), die beide Opfer der Atombombe waren und schrieben, als die Strahlung noch über ihren Häusern lag. Im Dezember 1945 schrieb Kurihara ein sanftes, ruhiges Gedicht mit dem Titel «The Children’s Voices»:
An einem warmen Winternachmittag
kümmerte ich mich um den Gemüsegarten.
In törichten Gedanken versunken, hatte ich ihn
eine Zeit lang vernachlässigt,
und bei all der Sonne, die wir dieses Jahr hatten,
wuchs, ehe ich mich versah, Unkraut.
Normalerweise pflege ich den Garten von morgens bis abends,
aber ich war zu unruhig geworden und hatte aufgehört.
Und warum? Während ich grübelte, rupfte ich Unkraut aus.
«Mami», riefen die Kinder, ganz außer Atem.
Sie waren von der Schule zurück.
Ach, wie unschuldig und rein ihre Stimmen sind!
Von nun an wird Mami nicht mehr so dumm sein
Unkraut in unserem Garten wachsen zu lassen.
Unser Garten wird kein einziges Unkraut mehr haben.

1949 schrieb der deutsche Philosoph Theodor Adorno in einem kulturkritischen Essay den Satz «Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch». Natürlich meinte Adorno damit nicht, dass Gedichte, die nach dem Holocaust geschrieben wurden, alle barbarisch sind, zumal sein Freund Bertolt Brecht in den Nachkriegsjahren einige wunderbare Gedichte schrieb. Adorno meinte vielmehr, dass die Kulturindustrie alles Gute in der Welt absorbierte und zu einer Ware machte. Die Kunst kämpfte mit der ihr innewohnenden Fähigkeit, erhellend zu sein, und wurde in die Rolle eines weiteren kommerziellen Objekts gedrängt. Doch Adornos Pessimismus war unberechtigt. Kuriharas Gedichte zum Beispiel wurden trotz der Zensur durch die US-Besatzung zu einem ständigen Refrain bei den Gedenkfeiern für Hiroshima und Nagasaki und fanden schließlich Eingang in die Lehrpläne für Schulkinder in Japan und anderen Teilen der Welt. Die künstlerische Sensibilität, die darauf bedacht ist, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, versucht weiterhin, weltweit Gemeinschaften aufzubauen und nicht nur Waren zu verkaufen.
In unserem jüngsten Dossier The Joy of Reading («Die Freude am Lesen») feiern wir diese Sensibilität: Wir wollen, dass das Lesen uns hilft, Gemeinschaften der Freude aufzubauen. In dem Text wird die Bedeutung der Lese- und Schreibfähigkeit für eine demokratische Kultur hervorgehoben, aber diese Lese- und Schreibfähigkeit besteht nicht nur darin, den Menschen beizubringen, ihren Namen in ihrer eigenen Sprache zu schreiben, sondern auch darin, allen Menschen das Recht auf Zugang zu einer öffentlichen Bibliothek zu gewähren und ihre Vorstellungskraft ein Leben lang zu erweitern. In diesem Dossier stellen wir Alphabetisierungskampagnen in Mexiko, China und dem indischen Bundesstaat Kerala vor. In all diesen Fällen ging die Notwendigkeit des Lesens von antikolonialen Bewegungen aus, die nicht nur die Befreiung vom Kolonialismus auf die Tagesordnung setzten, sondern auch den Aufbau einer Gesellschaft mit einem hohen Maß an politischer und kultureller Bildung, damit die Menschen an gesellschaftlichen Debatten teilnehmen können und nicht nur Zuschauer*innen der Eliten sind.

Als wir die mexikanische Schriftstellerin Paloma Saiz Tejero von der «Brigade zum Lesen in Freiheit» (Brigada para Leer en Libertad) über die Bedeutung des Lesens befragten, antwortete sie uns:
Ein Volk, das liest, ist ein Volk, das kritisches Denken entwickelt; es ist ein Förderer von Utopien. Ein Volk, das seine Geschichte kennt und sie sich zu eigen macht, wird stolz auf seine Wurzeln sein. Lesen sozialisiert; es teilt Erfahrungen und Informationen. Bücher ermöglichen es uns, den Grund zu verstehen, der uns und unsere Geschichte ausmacht; sie lassen unser Bewusstsein über den Raum und die Zeit hinauswachsen, die unsere Vergangenheit und Gegenwart begründen. Lesen macht uns zu besseren Menschen. Dank der Bücher lernen wir, an das Unmögliche zu glauben, dem Offensichtlichen zu misstrauen, unsere Rechte als Bürger*innen einzufordern und unsere Pflichten zu erfüllen. Lesen beeinflusst die persönliche und soziale Entwicklung des Einzelnen; ohne Lesen kann sich keine Gesellschaft weiterentwickeln.
Was die Brigada para Leer en Libertad in Mexiko tut, unterscheidet sich nicht so sehr von den öffentlichen Bibliotheksbewegungen in China und Indien. Der indische Bibliothekskongress, eine Initiative der indischen kommunistischen Bewegung, fand erstmals im Januar 2023 statt und wird inzwischen jährlich abgehalten. Ein Teil seiner Arbeit besteht darin, wie auf dem Kongress versprochen, sicherzustellen, dass «Bibliotheken ein wichtiger und aktiver öffentlicher Raum für die Gemeinschaft sowie Inkubatoren für die kulturelle Entwicklung und Drehscheiben für die Organisation von und/oder Veranstaltungsorte für Aktivitäten wie Filmvorführungen, Sport, Kunstmessen, Festivals und Berufsausbildungskurse werden müssen. In der Nähe dieser Bibliotheken müssen Gesundheitszentren und wissenschaftliche Kurse eingerichtet werden». In ähnlicher Weise sind öffentliche Bibliotheken sowohl in ländlichen als auch in städtischen Gebieten Chinas ein fester Bestandteil des kulturellen Lebens und ein Ort der Volksbildung.
In diesen Ländern war die Einrichtung dieser öffentlichen Bibliotheken keine Initiative von oben nach unten. Sie entstand durch die Arbeit der einfachen Leute. Die im Abschnitt über Kerala vorgestellten Fälle sind beispielhaft, wie das der sechzigjährigen Radha V. P., einer Beedi-Arbeiterin (eine Art handgedrehter Zigaretten), die ihre Leidenschaft für Bildung entdeckte, indem sie in ihrer knappen Freizeit die Wochenzeitschrift der Kommunistischen Partei Indiens (Marxisten) las und sich dann der mobilen Einheit einer örtlichen Bibliothek anschloss. Sie trug Bücher in ihrer Tasche zu den Häusern von Gemeindemitgliedern, insbesondere von Frauen und älteren Menschen, damit diese sie ausleihen und ihr zurückgeben konnten. «Ich hatte nie das Gefühl, dass die Tasche schwer war», sagte sie, «denn der Duft der Bücher hat mich immer sehr glücklich gemacht».

Das Dossier schließt mit einem Abschnitt über den Red Book Day oder Tag des Roten Buches, der jedes Jahr am 21. Februar begangen wird, um an den Jahrestag der Veröffentlichung des Kommunistischen Manifests und den Internationalen Tag der Muttersprache zu erinnern. Der Tag des roten Buches geht auf eine Initiative der Indischen Gesellschaft linker Verleger und später der Internationalen Union linker Verleger (IULP) zurück und wurde 2020 ins Leben gerufen, um die Menschen zu ermutigen, Feste und öffentliche Lesungen ihrer roten Lieblingsbücher zu veranstalten. Der Tag hat sich so weit ausgeweitet, dass im letzten Jahr über eine Million Menschen auf der ganzen Welt teilnahmen, von Indonesien bis Kuba. Die Kunst in diesem Dossier stammt aus dem Kalender für den Red Books Day 2025, der in englischer Sprache heruntergeladen und weltweit bei den Mitgliedern der IULP, von Marjin Kiri (Indonesien) über Inkani Books (Südafrika) bis La Trocha (Chile), erworben werden kann.
Der Tag des Roten Buches ist eine Initiative zur Förderung der öffentlichen Freude am Lesen und zur Rettung des kollektiven Lebens. Wir gehen davon aus, dass sich in einigen Jahren Millionen von Menschen auf der ganzen Welt an öffentlichen Plätzen versammeln werden, um den Tag des roten Buches zu feiern, von Festwagen im brasilianischen Karneval mit einem riesigen roten Buch auf einem Pritschenwagen bis hin zu Mitgliedern einer öffentlichen Bibliothek in Kerala, die immer mehr Stühle auf die Straße tragen und sich gegenseitig vorlesen, während ein Musiker auf eine Idakka (eine Art Holztrommel) schlägt.

Als Teil dieses Versuchs, die Freude am Lesen zu fördern und das kollektive Leben zu retten, ermutigt unser Institut unsere Leser*innen, Tricontinental-Lesezirkel zu gründen. Trommelt Freund*innen und Kolleg*innen zusammen, um einen Lesekreis in eurer Nähe zu gründen, und trefft euch ein Mal im Monat, um unsere Dossiers oder andere Veröffentlichungen zu besprechen. Es gibt nichts Bereichernderes als das gemeinsame Lesen und Diskutieren. Falls ihr einen Tricontinental-Lesekreis gründet, teilt es uns bitte per Email an circle@thetricontinental.org mit.
Herzlichst,
Vijay