Der dreiundzwanzigste Newsletter (2025)

Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Wenn ich Dokumente des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) lese, werde ich missmutig. Alles sieht schrecklich aus. Das liegt vor allem an den gesellschaftlichen Prozessen, die der Kapitalismus in Gang gesetzt hat, einschließlich des rauen Umgangs mit der Natur und der Abhängigkeit von kohlenstoffbasierten Brennstoffen. Zum Beispiel:
1. Eine Million der geschätzten acht Millionen Pflanzen- und Tierarten auf unserem Planeten sind vom Aussterben bedroht.
2. Die Hauptbedrohung für die Mehrheit der vom Aussterben bedrohten Arten ist der Verlust der biologischen Vielfalt, der durch das kapitalistische System der Nahrungsmittelproduktion verursacht wird.
3. Die landwirtschaftliche Produktion – die derzeit mehr als 30 % der bewohnbaren Landfläche der Welt einnimmt – ist für 86 % der prognostizierten Verluste an terrestrischer biologischer Vielfalt aufgrund von Landumwandlung, Verschmutzung und Bodendegradation verantwortlich.
Dies sind nur drei von Hunderten von Punkten, die in ebenso vielen wissenschaftlichen Dokumenten angeführt werden könnten. Es ist wichtig zu betonen, dass die Umweltzerstörung nicht durch den Menschen im Allgemeinen verursacht wurde, sondern durch ein bestimmtes System zur Organisation der Gesellschaft, das wir Kapitalismus nennen.

Das Problem mit dem Begriff Anthropozän (der zunächst von Naturwissenschaftler*innen, dann von Sozialwissenschaftler*innen verwendet wurde) ist, dass er impliziert, dass der Mensch – als undifferenziertes Ganzes – die ökologische Krise, mit der wir konfrontiert sind, verursacht hat. Damit wird die Rolle des kapitalistischen Systems und der damit einhergehenden Klassen- und Länderunterschiede auf subtile Weise heruntergespielt. Die Daten zeigen jedoch, dass die Menschheit das Äquivalent von etwa 1,7 Erden verbraucht, um unser derzeitiges Konsumniveau aufrechtzuerhalten. Mit anderen Worten: Wir verbrauchen die natürlichen Ressourcen 75-mal schneller, als die Natur sie jedes Jahr regenerieren kann. Solange wir keinen anderen bewohnbaren Planeten finden, gibt es keine rechnerische Möglichkeit, dieses Problem zu lösen. Dabei geht es nicht nur um das Klima, sondern auch um die Umweltbelastung, die wir der Erde zumuten (z. B. durch Abholzung, Überfischung, Übernutzung von Süßwasser und Bodendegradation).
Wenn wir dieses undifferenzierte Konzept der Menschheit nach Ländern aufschlüsseln, zeigen sich deutliche Unterschiede. Wenn alle Menschen wie ein durchschnittlicher Mensch in den Vereinigten Staaten leben würden, bräuchten wir fünf Erden. Wenn jeder wie ein durchschnittlicher Mensch in der Europäischen Union leben würde, bräuchten wir drei Erden. Wenn jeder wie ein Mensch in Indien leben würde, bräuchten wir 0,8 Erden. Wenn jeder wie ein Mensch im Jemen leben würde, bräuchten wir 0,3 Erden. Ein undifferenziertes Menschenbild verschleiert die großen Unterschiede in der Welt und verdrängt die Notwendigkeit einiger Völker – wie etwa im Jemen -, ihren Konsum zu steigern, um ein menschenwürdiges Leben zu führen.
Das Konzept des Anthropozäns verbirgt mehr, als es offenbart.

In ein paar Monaten werden Privatjets in Belém, Brasilien, zur COP30 landen. An der Mündung des Amazonas gelegen, ist Belém ein idealer Ort für die dreißigste Konferenz der Vertragsparteien des Rahmenübereinkommens der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (UNFCCC). Im letzten Vierteljahrhundert hat das Amazonasgebiet unter einer verheerenden Abholzung gelitten. Allein im brasilianischen Amazonasgebiet gingen zwischen 2000 und 2023 insgesamt 264.000 Quadratkilometer Wald verloren – das entspricht der Fläche Neuseelands und des Vereinigten Königreichs zusammen. Das intensive Naturschutzprogramm des brasilianischen Präsidenten Lula da Silva hat beträchtliche Fortschritte bei der Umkehrung dieses Trends gemacht, aber es muss noch weitergehen. Die COP30 in Belém zu veranstalten, wird ein starkes Signal sein, nicht nur zur Rettung des Amazonas, sondern auch für die Zukunft des Planeten und der Menschheit.
Unser Team in Brasilien arbeitet derzeit an einer Reihe von Veröffentlichungen über die kapitalistische Klima- und Umweltkrise, die auf der COP30 verteilt werden sollen. Aus unserer Analyse geht bereits hervor, dass „grüner Kapitalismus“ keine Lösung ist. Wie Jason Hickel in einem unserer panafrikanischen Newsletter schrieb, ist der Kapitalismus an sich das Problem, vor dem wir stehen. Im Folgenden findet ihr einige vorläufige Forderungen, die über die Grüne-Kapitalismus-Maskerade hinausgehen.

1. Die Klima- und Umweltdiskussion muss demokratisiert werden. Es gibt keinen Platz für Tagungen hinter verschlossenen Türen, die von Konzernen finanziert werden, die ein persönliches Interesse an der Umwelt- und Klimazerstörung haben. So wurde die COP29 in Baku, Aserbaidschan, teilweise von Ölkonzernen wie ExxonMobil, Chevron, Octopus Energy, der staatlichen Ölgesellschaft der Republik Aserbaidschan, und TotalEnergies sowie der US-Handelskammer und dem Weltwirtschaftsforum (das seinerseits teilweise von der US-Regierung finanziert wird) finanziert. Wer zahlt, gibt den Ton an – ein Sprichwort, das nicht ohne Bedeutung ist, wenn es um Geld und Macht geht. Eine solche UN-Konferenz muss von den Regierungen finanziert werden, und die in den Sitzungen geführten Gespräche müssen transparent sein.
2. Die Regierungen der Welt müssen ihre eigenen Vereinbarungen und vertraglichen Verpflichtungen stärken. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass aufgrund des Drucks der USA und der EU keines der großen Klimaabkommen eine klare Formulierung für Entschädigungen oder sogenannte «Verluste und Schäden» (d. h. Klimareparationen) enthält. Beiträge zum Verlust- und Schadensfonds sind freiwillig, wie aus einer Reihe von Prozessen und Verträgen hervorgeht, von der UNFCCC von 1992 bis zum Warschauer Internationalen Mechanismus von 2013, dem Pariser Abkommen von 2015, dem Glasgower Klimapakt von 2021 und dem Abkommen über den Verlust- und Schadensfonds von 2022.

3. Es muss einen fairen Plan für die Energiewende geben, der demokratisch gestaltet ist. Ein solcher Plan muss die Beendigung von staatlichen Subventionen für private kohlenstoffbasierte Brennstoffunternehmen beinhalten. Diese Mittel müssen stattdessen zur Förderung einer neuen Energiematrix und zum Schutz der Bevölkerung vor den negativen Auswirkungen der Klima- und Umweltkatastrophe eingesetzt werden.
4. Die Weltwirtschaft muss durch eine Agrarreform umgestaltet werden. Eine solche Reform muss den Schwerpunkt auf eine wissenschaftlich fundierte und demokratische Form der Landwirtschaft legen, die den Boden, das Wasser und die Luft schützt. Die Regierungen müssen Studien durchführen, um zu bewerten, was es bedeutet, die Landwirtschaft umzustrukturieren, um der Klima- und Umweltkatastrophe zu begegnen. Wir brauchen neue Formen der agroklimatischen Kartierung und Daten, die uns erkennen lassen, wie wir das Wissen der lokalen Gemeinschaften nutzen können, um das natürliche Ökosystem zu schützen und gleichzeitig Wege zu finden, die natürlichen Ressourcen zum Nutzen aller nachhaltig einzusetzen. Eine solche Kartierung wird uns helfen, besser zu verstehen, wie wir die Abholzung bekämpfen und die Wiederaufforstung fördern können, wie wir die Wasserressourcen für unseren eigenen Verbrauch und unsere Energieversorgung richtig nutzen können und wie wir den Bergbau regulieren können, um der Erde Ressourcen zu entziehen, ohne eine katastrophale soziale und ökologische Zerstörung zu verursachen. Können wir uns zum Beispiel dazu verpflichten, bis 2027 eine Netto-Null-Abholzung zu erreichen?.

Das Foto oben stammt von unserem Freund Sebastião Salgado (1944-2025), der am 23. Mai verstorben ist. Salgado porträtierte die Arbeiterklasse und die Bauernschaft mit Würde und ohne deren Ausbeutung zu romantisieren. Er war stets solidarisch mit ihren Kämpfen und Organisationen. Nach dem Massaker von Eldorado do Carajás im Jahr 1996, bei dem neunzehn Aktivist*innen der Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) im Süden von Pará getötet wurden, schuf Salgado zusammen mit dem Sänger Chico Buarque und dem Schriftsteller José Saramago ein Buch mit dem Titel Terra (Land), dessen Erlös an die MST ging. Zusammen mit der Spende einiger seiner Fotografien half Salgado dem MST beim Bau der Nationalen Schule Florestan Fernandes.
Salgado schätzte die Arbeit von Tricontinental sehr und schickte uns gelegentlich ein Dankesschreiben für die von uns produzierten Materialien. Wir verneigen uns in Ehrfurcht vor seinem großen Beitrag für die Menschheit.

Im Jahr 1843 wurde ein Mann namens Julio Cezar Ribeiro de Souza in Belém geboren, auf der anderen Seite des Amazonas, im Vale do Javari, das Salgado fotografiert hat. Souza liebte es, den Vogelflug zu beobachten, und diese genaue Beobachtung der Natur inspirierte ihn zur Erfindung des lenkbaren Heißluftballons, der die Aeronautik der Vögel nachahmte. Vielleicht müssen wir dieses Ethos kultivieren: Die Natur muss nicht erobert werden, sondern wir sollen von ihr lernen und mit ihr leben.
Herzlichst,
Vijay