Der siebenundzwanzigste Newsletter (2025)

Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Vor einem Jahrzehnt war ich bei Handelsgesprächen zwischen den Vereinigten Staaten und einem kleinen Land in Südostasien zugegen. Was mich beschäftigte, war nicht der Inhalt der Verhandlung, die Beratungen über ein Thema, das für das Weltgeschehen unbedeutend, für dieses eine Land aber von großer Bedeutung war, sondern die Unverhältnismäßigkeit zwischen den Personen am Verhandlungstisch.
Die Delegation aus den Vereinigten Staaten, die in diesem unscheinbaren Büro in Genf (Schweiz) eintraf, war in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Erstens verfügte sie über ein Übermaß an Anwält*innen und Mitarbeiter*innen, und zweitens waren sie mit einer großen Anzahl von Aktenordnern bewaffnet, die alle Unterlagen für ihren Fall enthielten und aus denen lauter beschriftete Notizzettel ragten, so dass sie sich direkt auf die Punkte stürzen konnten, die sie in der Diskussion ansprechen mussten. Das Kontingent des asiatischen Landes hingegen war spärlich: Es bestand aus einem einzigen Vertreter des UN-Büros in Genf, der weder Handelsspezialist noch Jurist war und nur eine Mappe mit einigen Blättern Papier zur Hand hatte. Die Verhandlungen spiegelten diese Unausgewogenheit wider: Die US-Handelsvertreter*innen waren dem asiatischen Nachwuchs-Bürokraten um Längen voraus. Ich ging anschließend mit diesem Bürokraten einen Kaffee trinken. Er war verunsichert. Er fühlte sich beraubt.

Vor einigen Jahren erzählte mir ein mittlerer Beamter aus einem ostafrikanischen Land, dass er einen Darlehensvertrag mit einer asiatischen Bank unterzeichnet hatte, ohne das Dokument zu verstehen oder die Zeit zu haben, es von Anfang bis Ende zu lesen. Etwa zur gleichen Zeit erzählte mir ein Beamter eines lateinamerikanischen Ministeriums, dass sie ihre Analysen von Handelsdokumenten von einer Stiftung machen ließen, die mit einer gemeinnützigen Organisation aus den Vereinigten Staaten in Verbindung steht. Mit anderen Worten: Ihre Verhandlungen basieren auf den von dieser Stiftung bereitgestellten Unterlagen und nicht auf ihrer eigenen Analyse und Bewertung. Diesen Beispielen ließen sich viele weitere hinzufügen; die Geschichten sind hier nur in ihren Umrissen erzählt, um Kolleg*innen und Länder, die durch neokoloniale Strukturen in eine sehr schwierige Lage gebracht wurden, nicht in Verlegenheit zu bringen.

Die Auswirkungen eines solchen institutionellen Ungleichgewichts lassen sich nur schwer quantifizieren, vor allem weil es keine internationale Agentur gibt, die Daten über Regierungsbeamt*innen im Allgemeinen oder über Verhandlungsführer*innen im Besonderen erhebt. Zu den spärlichen Daten, die es in diesem Bereich gibt, gehört das Worldwide Bureaucracy Indicators Dashboard der Weltbank, aus dem hervorgeht, dass etwa 18,6 % der gesamten Erwerbsbevölkerung im Globalen Norden bei der Regierung beschäftigt sind, während diese Zahl im Globalen Süden etwa bei 10 % liegt. Eine Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über Afrika zeigt, dass die Zahlen in mehreren Ländern viel niedriger sind und in afrikanischen Ländern wie Tschad, Côte d’Ivoire, Madagaskar, Mali und Tansania unter 3 % liegen. Auch ohne detaillierte Daten über die Zahl der Handelsunterhändler*innen oder Handelsanwält*innen in der Regierung vermitteln die obigen Angaben doch ein hinreichendes Bild von der allgemeinen Ungleichheit in staatlichen Kapazitäten zwischen Nord und Süd.

Das Ausmaß dieses Unterschieds ist unglaublich (Ausnahmen sind sozialistische Staatsprojekte wie China und Vietnam, wo Regierungsbeamt*innen nach wie vor gut ausgebildet und in größerer Zahl vorhanden sind – in China machen sie etwa ein Fünftel der Arbeitskräfte aus). Viele der Gründe für diese Ungleichheit liegen auf der Hand, aber sie sind es auf jeden Fall wert, aufgezählt zu werden:
- Die meisten Schulen für öffentliche Verwaltung im Globalen Süden mussten aufgrund der Sparpolitik des Internationalen Währungsfonds enorme Haushaltskürzungen hinnehmen, was sich beispielsweise auf die Fähigkeit auswirkt, Lehrkräfte auszubilden und Lehrpläne zu erstellen, die sowohl aktuell als auch relevant für die spezifischen nationalen Bedingungen sind, unter denen diese zukünftigen öffentlichen Bediensteten arbeiten müssen.
- Neben den Sparmaßnahmen, die den Schulen für öffentliche Verwaltung auferlegt wurden, kam es auch zu einer ständigen Schließung oder Schrumpfung von staatlichen Planungskommissionen und Forschungsabteilungen. Dies sind die Institutionen, die normalerweise den Regierungskadern eine intellektuelle Orientierung über die Position ihres Landes in der internationalen Wirtschaft und die unmittelbaren Aufgaben für ein nationales Entwicklungsprogramm geben. Das Fehlen solcher Institutionen lässt die Kader ohne klares Mandat oder Orientierung zurück.
- Im Allgemeinen sind patriotische und antikoloniale Einstellungen unter den unterbezahlten und unzureichend ausgebildeten Regierungsangestellten gesunken. Diese auf Neoliberalismus und Kulturimperialismus basierende psychologische Kriegsführung hat zur Folge, dass neuere Generationen von Staatsbediensteten nicht in der Lage sind, sich für das Wohlergehen ihres Volkes einzusetzen und anfällig für Anreize verschiedener Art (einschließlich Korruption) sind. Der zunehmende Individualismus in der Bevölkerung hat auch zu Karrierismus und zur Anhäufung von persönlichem Reichtum und Privilegien auf Kosten nationaler Interessen geführt.
- In dem Maße, wie staatliche Einrichtungen geschlossen oder verkleinert wurden, sind vom Westen finanzierte Nichtregierungsorganisationen entstanden, die «technische Hilfe» leisten. Das Personal dieser Programme besteht häufig aus Personen, die an ausländischen Universitäten ausgebildet wurden, einen Klassenhintergrund haben, der nicht unbedingt mit dem der großen Mehrheit der Bevölkerung übereinstimmt, und ein begrenztes Verständnis der historischen und soziologischen Entwicklungen in ihrem Land haben. Darüber hinaus werden die Ausrichtungen dieser Institutionen von ihren ausländischen Wohltätern entworfen, die in der Regel von ihren eigenen Interessen geleitet werden.

Das Schwinden der Schulen für öffentliche Verwaltung in Verbindung mit dem mangelnden politischen Willen der Regierungen, die Souveränität ihrer Gesellschaften durchzusetzen, hat dazu geführt, dass die Ambitionen multinationaler Konzerne und internationaler Finanzinstitutionen die Richtung dieser Länder bestimmen. Aufgrund des Mangels an Kapazitäten und politischer Klarheit unterwerfen sich die Staaten des Globalen Südens routinemäßig den gut entwickelten Agenden ausländischer Institutionen, die oft sehr viel klarer wissen, was sie wollen. Die Notwendigkeit des Aufbaus von Verwaltungskapazitäten im Globalen Süden geht Hand in Hand mit der allgemeinen Notwendigkeit einer neuen Entwicklungstheorie für den Süden, damit wir in der Lage sind, unsere eigene Agenda gegen die der neokolonialen Eindringlinge zu definieren.
Als ich vor einigen Jahren bei diesem Treffen in Genf saß und beobachtete, wie die US-Beamt*innen und ihre Anwält*innen den südostasiatischen Junior-Beamten umzingelten, musste ich an Nizar Qabbanis Gedicht «Footnotes to the Book of the Setback» (Fußnoten zum Buch des Rückschlags) aus dem Jahr 1967 denken, das er kurz nach der Niederlage Palästinas im Sechs-Tage-Krieg geschrieben hatte. Das Gedicht, in Damaskus in Syrien veröffentlicht, wurde später verboten und in Länder der arabischen Welt geschmuggelt. Zwei Zeilen aus dem Gedicht spukten mir im Kopf herum:
Unsere Feinde haben unsere Grenzen nicht überschritten.
Wie Ameisen krochen sie in unsere Schwächen.
Wir müssen unsere Schwächen überwinden.
Herzlichst,
Vijay