
«Ganz Russland lernte lesen, und es las – Politik, Ökonomie, Geschichte. Das Volk wollte Wissen … In jeder Großstadt, fast in jeder Stadt, an der ganzen Front hatte jede politische Partei ihre Zeitung, manchmal mehrere. Hunderttausende von Flugblättern wurden von Tausenden Organisationen verteilt, überschwemmten die Armee, die Dörfer, die Fabriken, die Straßen. Der Drang nach Wissen, so lange unterdrückt, brach sich in der Revolution mit Ungestüm Bahn. Allein aus dem Smolny-Institut gingen in den ersten sechs Monaten täglich Tonnen, Wagenladungen Literatur ins Land. Russland saugte den Lesestoff auf, unersättlich, wie heißer Sand das Wasser. Und es waren nicht Fabeln, die verschlungen wurden, keine Geschichtslügen, keine verwässerte Religion oder der billige Roman, der demoralisiert – es waren soziale und ökonomische Theorien, philosophische Schriften, die Werke Tolstois, Gogols und Gorkis …»
– John Reed, Zehn Tage, die die Welt erschütterten, 1919.[1]
Schon immer haben Revolutionen der einfachen arbeitenden Menschen Vorstellungen von einer besseren Welt geboren und die Mauern der alten Gesellschaft eingerissen. Jede dieser Revolutionen, ob sie nun direkt sozialistisch oder vom Streben nach nationaler Befreiung getrieben war, liefert uns den Beweis für diesen Überschwang, alte soziale Normen zu überwinden und egalitäre Formen des Seins und der Zugehörigkeit zu schaffen. Da die meisten Revolutionen des 20. Jahrhunderts von Bauern und Arbeitern angeführt wurden (Mexiko, 1910; China, 1911; Iran, 1905-1911; Russland und Zentralasien, 1917), konzentrierten sie sich häufig auf die Frage, wie man die starren Besitzverhältnisse des Bodens und der Produktionsmittel verändern kann. Um die Macht des Großgrundbesitzers zu brechen, reichte es nicht aus, überschüssiges Land zu verteilen (Landreform); die Macht des Grundherren war in sozialen Hierarchien verwurzelt, die manchmal göttlichen Charakter annahmen. Die Unterdrückung der Bauernschaft erfolgte vor allem auch über die unentzifferbaren Hieroglyphen der Grundbücher und Rechnungsbücher, die Bücher der Geldverleiher und Priester. Indem man den Bauern die Fähigkeit zu lesen vorenthielt, machte man sie ohnmächtig – eine Macht, die, einmal ergriffen, in jeder dieser Revolutionen in den ärmeren Teilen der Welt deutlich wirkte.
Die bürgerliche Kultur, die im neunzehnten Jahrhundert in diesen Ländern vorherrschte, machte das Lesen zu einem Merkmal des Klassenstandes. Obwohl Bücher und Zeitungen mit dem Aufkommen des kommerziellen Drucks florierten, waren sie hauptsächlich für das Bürgertum und – in einigen Fällen – das Kleinbürgertum bestimmt. In Mexiko, wo unter der Präsidentschaft von Benito Juárez (1858-1872) das Schulwesen und das Verlagswesen ausgebaut wurden, überstiegen die Kosten für eine Zeitung bei weitem den Tagesverdienst eines durchschnittlichen Arbeiters oder Campesinos (Bauern).[2] Unter dem Regime der Großgrundbesitzer in Ländern wie Mexiko und Russland und in Kolonien wie Indien und auf dem afrikanischen Kontinent gab es nur sehr wenige Möglichkeiten für Arbeiter und Bauern, lesen zu lernen. Erst als in diesen Ländern Gewerkschafts- und kommunistische Bewegungen entstanden und ihre Organisationen – oft im Geheimen – Zeitungen und Flugblätter veröffentlichten, erhielten die Mitglieder der Arbeiterklasse und der Bauern breiteren Zugang zu Texten, die ihnen von gebildeten Organisatoren vorgelesen wurden. Diese Form des kollektiven Lernens wurde zu einer frühen Schule der Alphabetisierung.
Dieses Dossier mit dem Titel Die Freude am Lesen beleuchtet solche Traditionen und Beispiele für die populäre Alphabetisierung in unserer Zeit, von Mexiko über China bis nach Indien. Im letzten Teil geht es um den Red Books Day eine Initiative, das in Indien seinen Anfang nahm und sich seitdem – auf Initiative der International Union of Left Publishers – auf der ganzen Welt verbreitet hat.

Mexiko liest
Zur Zeit der mexikanischen Revolution von 1910 konnten nur etwa 22 % der 15,1 Millionen Einwohner des Landes lesen und schreiben.[3] Im nächsten Jahrzehnt herrschte in Mexiko eine lange Periode von Unruhen, bis Álvaro Obregón 1920 die Präsidentschaft errang und einen Reformprozess einleitete, der kulturelle Massenaktivitäten wie die Eröffnung ländlicher Schulen, die Ausbildung von Lehrern, den Bau öffentlicher Bibliotheken und Kunstschulen sowie die Veröffentlichung von Broschüren und Büchern für Leseanfänger umfasste. 1921 wurde José Vasconcelos zum ersten Sekretär für das öffentliche Bildungswesen ernannt und erhielt von Obregón den Auftrag, die mexikanische Kultur zu demokratisieren.[4] Um dieses Ziel zu erreichen, errichtete der Staat Tausende von Schulen und Lehrerausbildungsstätten auf dem Land und erhöhte die Löhne der Landlehrer von einem auf drei Pesos pro Tag.[5] Für die Leitung des wichtigsten Ausbildungsinstituts wandte sich Vasconcelos an das Mitglied der Kommunistischen Partei Mexikos, Elena Torres Cuéllar, die diese kulturellen Missionen auf das ganze Land ausdehnte und innerhalb eines Jahrzehnts über viertausend Lehrer ausbildete. Torres initiierte 1921 auch ein Programm für ein kostenloses Frühstück in den Schulen und sorgte dafür, dass Zehntausende von Schülern zu essen bekamen.[6]
Unter der Leitung von Vasconcelos setzte sich das Ministerium für öffentliche Bildung (Secretaría de Educación Pública, SEP) für die Einrichtung hochwertiger öffentlicher Bibliotheken in ländlichen Gebieten ein. Zu diesem Zweck stellte das SEP nicht nur Mittel für den Bau der Bibliotheken zur Verfügung, sondern druckte und verteilte auch Bücherpakete (fünfzig für ländliche Bibliotheken und tausend für städtische Zentren), die sowohl das kulturelle Leben der Landbevölkerung fördern als auch ihr praktisches und produktives Wissen vermitteln sollten. Diese Bücher reichten von griechischen Klassikern bis hin zu Büchern über mexikanische Geschichte, Hauswirtschaft und Agrarwissenschaft.[7] Die SEP gab auch eine Lehrerzeitschrift, El Maestro (Der Lehrer), heraus, die Informationen über Lehrmethoden, neue Ideen im Bildungswesen und Buchbesprechungen enthielt. Parallel zu dieser staatlichen Initiative gründete der Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler Daniel Cosío Villegas 1934 den Fonds für Wirtschaftskultur an der damaligen Nationalen Wirtschaftshochschule (heute Wirtschaftshochschule der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko), der zunächst Bücher an die Wirtschaftsstudenten verteilte und später zu einem Motor für die Verbreitung einer breiten Palette von Büchern in ganz Lateinamerika wurde.
Als die mexikanische Revolution institutionalisiert wurde und sich ihr Klassencharakter veränderte, ging der Fokus auf die Demokratisierung der Kultur verloren. Die Alphabetisierungsrate war zwar gestiegen, stagnierte aber bei etwa 70 %, und das staatliche Bildungssystem und die öffentlichen Bibliotheken waren nicht in der Lage, die Qualität der Alphabetisierung zu verbessern. Sowohl für die Schulen als auch für die Bibliotheken wurden die Mittel gekürzt, da das Engagement für diese Einrichtungen angesichts des finanziellen Drucks, der 1982 in der mexikanischen Schuldenkrise gipfelte, zurückging. Während die mexikanischen Politiker in die Gewohnheiten des Neoliberalismus abglitten, kämpften andere Strömungen in der Gesellschaft dagegen an, dass die Alphabetisierung in den Hintergrund geriet. 1986 startete die Generaldirektion der Bibliotheken ein Programm mit dem Titel Meine Ferien in der Bibliothek (Mis Vacaciones en la Biblioteca), in dessen Rahmen eine Million Kinder und Jugendliche öffentliche Bibliotheken besuchten, um an einer Reihe von sozialen Aktivitäten teilzunehmen.[8] Das mexikanische Bibliothekssystem baut auf diesem Programm auf und veranstaltet Kultur-, Musik- und Märchenfestivals. 1995 schuf das SEP im Rahmen der Bildungsreform nach der Lehrplanaktualisierung von 1993 das Nationale Programm für das Lesen (Programa Nacional para la Lectura), das im Jahr 2000 in Auf dem Weg zu einem Land der Leser (Hacia un país de lectores) umbenannt wurde. Einer der Eckpfeiler des Programms war die jährliche Auswahl, Produktion und Verteilung von fünfundsiebzig Buchtiteln für Schulbibliotheken im ganzen Land.
Im Rahmen des mexikanischen Nationalen Programms zur Förderung des Lesens und des Buches (Programa de Fomento para el Libro y la Lectura) wurde im Jahr 2008 das Projekt Mexiko Liest (México Lee) ins Leben gerufen, um Alphabetisierung als Instrument zur Verringerung der sozialen Ungleichheit und zur Verbesserung des Zugangs zu Wissen einzusetzen. Dieses Programm steht in der Tradition der mexikanischen Alphabetisierungskampagnen und des 2001 von der kubanischen Revolution ins Leben gerufenen Lehrplans Yo, sí puedo (Ja, ich kann), der auf das kubanische Alphabetisierungsprogramm von 1961 zurückgeht und in ganz Lateinamerika enormen Einfluss hatte. Im darauffolgenden Jahr, 2009, gründeten der Direktor des Fonds für Wirtschaftskultur Paco Ignacio Taibo II und die Schriftstellerin Paloma Saiz Tejero die Brigade zum Lesen in Freiheit (Brigada para Leer en Libertad), um Bücher zu veröffentlichen, die kostenlos heruntergeladen oder von Buchmessen und Kulturfestivals mitgenommen werden können. Im Mittelpunkt der Brigade steht die Freude am Lesen. Wie Paloma Saiz Tejero erklärt:
«Lesen eröffnet eine Reihe von Erwartungen und Kenntnissen, die man normalerweise nicht hat; es macht einen viel kritischer und gibt einem Waffen an die Hand, mit denen man sich jeden Tag seines Lebens verteidigen kann; es macht einen nicht schöner oder reicher; die Bücher, die einem erzählen, dass solche Dinge passieren, wenn man sie liest, sind reine Lügen – so ist es nicht, man wird nicht einmal intelligenter –, aber es gibt die Klarheit, zu entscheiden, was man tut und was man nicht tun will.»[9]

Lesen hilft dem chinesischen Volk, aufrecht zu stehen
Vor dem Sturz der Qing-Dynastie im Jahr 1911 konnte ein Großteil der Bevölkerung – insbesondere die Frauen – nicht lesen, und die Alphabetisierungsrate lag um die Jahrhundertwende bei schätzungsweise 10-15 %.[10] Die Verhältnisse verbesserten sich in den folgenden Jahren nicht wesentlich, was vor allem auf die Zerrüttung der chinesischen Gesellschaft bis zur chinesischen Revolution von 1949 zurückzuführen war. Erst in den 1950er Jahren begann die Alphabetisierungsrate drastisch zu steigen und erreichte 1959 57 %.[11] Im Jahr 2021 lag die Alphabetisierungsrate bei den Erwachsenen in China bei 97 % und war damit eine der höchsten in der Welt. Die enormen Fortschritte, die China im Laufe der letzten sieben Jahrzehnte gemacht hat, wurden als «die vielleicht größte Bildungsoffensive in der Geschichte der Menschheit» bezeichnet.[12]
Diese Fortschritte waren das Ergebnis von Initiativen, die die Kommunistische Partei Chinas (KPC) unmittelbar nach der Revolution von 1949 ergriff. Diese Initiativen stützten sich auf Erfahrungen im Jiangxi-Sowjet (1931-1934) und im Yan’an-Sowjet (1936-1948) in Südost- bzw. Nordzentralchina, in denen verschiedene Formen von Kampagnen zur Alphabetisierung von Landbewohnern und Erwachsenen durchgeführt wurden. In beiden Sowjets baute man auf ähnliche Bemühungen der Sowjetunion auf, wie z. B. der Kampagne zur Ausrottung des Analphabetismus (Likbez), die allen Sowjetrepubliken bemerkenswerte Erfolge brachte als sie mit der Systematisierung der Erkenntnisse über Alphabetisierungsprogramme für Erwachsene begannen.[13] 1921 erklärte W. I. Lenin auf einer Konferenz zur Wirtschaftspolitik, dass es keinen Fortschritt geben würde, wenn der Analphabetismus bestehen bliebe. Ohne Alphabetisierung, so Lenin, «kann es keine Politik geben; ohne das gibt es nur Gerüchte, Tratsch, Märchen, Vorurteile, aber keine Politik».[14]
Obwohl es unmöglich ist, die gesamte Palette der Aktivitäten zusammenzufassen, die die Alphabetisierungskampagne des Neuen China prägten, sind drei von ihnen hervorzuheben:
- Das chinesische Wort für Analphabetismus lautet 文盲 oder «Textblindheit», was darauf hinweist, dass die Kenntnis der chinesischen Schriftzeichen historisch gesehen von zentraler Bedeutung ist, um an dieser Welt teilzuhaben. Die chinesische Sprache, die sich aus 100.000 Schriftzeichen zusammensetzte war so komplex, dass sie sich der normalen Bevölkerung nicht erschließen konnte und ein Hindernis im Lernprozess des Volkes darstellte. 1955 setzte die Revolutionsregierung das Komitee zur Reform der chinesischen Schriftsprache ein, um die Alphabetisierung auf eine überschaubare Weise voranzutreiben, indem die Liste der Schriftzeichen auf 1.500 für die Landbevölkerung und 2.000 für die Führungskräfte auf dem Land und die Stadtbewohner als Mindestanforderung für die Alphabetisierung gekürzt wurde.[15] Im Jahr 1958 begannen die Grundschulen mit der Verwendung von pinyin (der Standardumschrift der chinesischen Schriftzeichen) und vereinfachten die chinesischen Schriftzeichen.
- Wie in Mexiko und Russland betonte die chinesische Revolution die Bedeutung der Alphabetisierung einerseits der Landbevölkerung und vor allem auch aller Erwachsenen: Wenn die Eltern nicht in die Lage versetzt würden, Lesen und Schreiben zu lernen, könnten sie ihren Kindern nicht die Freude am Lesen vermitteln. Lin Handa, einer der prominentesten Führer der Alphabetisierungskampagne Chinas, sagte 1955, dass das Erlernen von Schriftzeichen nicht die Alphabetisierung definieren sollte; vielmehr sollte das Ziel der Alphabetisierungskampagne darin bestehen, die Bauernschaft in die Lage zu versetzen, ihr Leben zu bereichern und ihre Produktivität zu steigern. Gemäß dem im folgenden Jahr erlassenen Dekret zur Bekämpfung des Analphabetismus sollte die Alphabetisierung Erwachsener auf dem Lande auf den Grundsätzen der «Integration des Praktischen» (lianxi shiji) und des «Lernens mit dem Ziel der Anwendung» (xue yi zhi yong) beruhen.[16]
- Schließlich unterstrich die chinesische Revolution die Rolle der öffentlichen Bibliotheken in ihren Alphabetisierungsprogrammen. 1949 gab es in China nur fünfundfünfzig öffentliche Bibliotheken. Im Zuge der Demokratisierung errichtete das neue China Bibliotheken in ländlichen Gebieten für die Bauernschaft und Betriebsbibliotheken für die Arbeiter. Bis 1956 hatte China 182.960 ländliche Lesesäle eingerichtet, die eine Vielzahl von Materialien enthielten.[17]
Dank solcher Initiativen konnte die chinesische Gesellschaft den Analphabetismus überwinden. Heute steht China vor einer Reihe neuer Herausforderungen, z. B. Umgang mit der übermäßigen Nutzung junger Menschen nach Bildschirmen und Videospielen. Im Jahr 2021 kündigte Chinas Präsident Xi Jinping an, dass seine Regierung die Nutzung von Online-Videospielen durch Jugendliche auf drei Stunden pro Woche beschränken werde, was sowohl von der Videospielindustrie als auch von den Eltern geregelt werden solle. 2022 eröffnete Präsident Xi die Erste Nationale Lesekonferenz mit einer Rede, in der er die Bedeutung des Lesens nicht nur für den Erwerb von Wissen, sondern auch für eine Erweiterung von Weisheit und der Kultivierung von Tugenden hervorhob:
«Seit dem Altertum hat das chinesische Volk das Lesen hoch geschätzt und den Erwerb von Wissen durch das Studium der Natur der Dinge und die Korrektur des Geistes durch aufrichtiges Denken betont. Das Lesen hilft dem chinesischen Volk, den traditionellen Geist der Beharrlichkeit zu bewahren und seinen Charakter mit Selbstvertrauen und Eigenständigkeit zu formen.
Ich rufe Parteimitglieder und Beamte auf, beim Lesen und Lernen die Führung zu übernehmen, Tugenden und Ideale zu fördern und Fähigkeiten zu verbessern. Ich hoffe, dass alle unsere Kinder sich das Lesen zur Gewohnheit machen, Freude am Lesen haben und gesund aufwachsen. Ich wünsche mir, dass alle unsere Bürgerinnen und Bürger sich für das Lesen engagieren und zu einer Atmosphäre beitragen, in der jeder gerne liest, gute Bücher zur Verfügung hat und weiß, wie er vom Lesen profitieren kann.»[18]
Im selben Jahr wurde die Shanghai Library (East Branch) für die Öffentlichkeit geöffnet. Gegenüber dem Century Park im Stadtteil Pudong gelegen, herrscht in der Bibliothek jeden Tag, vor allem aber am Sonntagabend, reges Treiben. In vielen ärmeren Ländern des Globalen Südens sieht man zu dieser Zeit die Kinder üblicherweise auf der Straße spielen. Im Globalen Norden wären die Kinder vielleicht drinnen und würden auf einen Bildschirm starren. In Shanghai sammeln die Kinder stapelweise Bücher, manchmal sitzen sie auf dem Schoß eines Vaters, einer Mutter oder eines Großelternteils und blättern aufgeregt von einer Seite zur nächsten.
Ein kleiner, aber wichtiger Teil der Bibliothek ist der marxistischen Literatur gewidmet. Die Regale sind in chronologischer Reihenfolge angeordnet: Karl Marx und Friedrich Engels, Mao Zedong, Deng Xiaoping, Xi Jinping. Der beeindruckendste Teil der Bibliothek ist die Kinderabteilung, vollgepackt mit Reihen von bunten Kinderbüchern, mit Sofas, Tischen und Kabinen, die zum Sitzen und Lesen einladen. Hierher kommen die Menschen – Erwachsene und Kinder gleichermaßen –, um ihr Recht auf Lesen wahrzunehmen (das in Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 verankert ist). In dieser Tradition ist das Lesen eine ausgesprochen soziale Aktivität, die zur Entwicklung von Empathie und kognitiven Fähigkeiten beiträgt, insbesondere bei Jugendlichen, und die Menschen mit ihrer Geschichte, Kultur, Sprache und ihren Vorfahren verbindet.

Der Duft der Bücher in Kerala (Indien)
Kerala, ein Bundesstaat im Südwesten Indiens mit etwa 33,4 Millionen Einwohnern, wird von der Linken Demokratischen Front regiert, deren wichtigste Partei die Kommunistische Partei Indiens (Marxistisch) oder CPI(M) ist.[19] Wenn Sie in eine beliebige Stadt in diesem Bundesstaat fahren, werden Sie mit Sicherheit eine öffentliche Bibliothek sehen, in der die Menschen nach Büchern suchen, die sie ausleihen können, oder an einem Tisch sitzen und lesen. Es gibt über 9.000 öffentliche Bibliotheken in Kerala, das aufgrund der aktiven Präsenz der kommunistischen Bewegung eine lange Tradition des Lesens hat.
In den 1920er Jahren, in der Zeit des zunehmenden Kampfes gegen den britischen Imperialismus, setzte der antikoloniale indische Nationalismus die Bedeutung der Alphabetisierung auf seine Agenda. Eines der Instrumente für eine Alphabetisierungskampagne war die öffentliche Bibliothek, die in den von liberaleren Fürsten regierten indischen Bundesstaaten (z. B. in Baroda, dem heutigen Vadodara) bereits ein wichtiger Bestandteil der Entwicklungsagenda geworden war. Interessant an der Geschichte der Bibliotheksbewegung in Indien ist, dass viele ihrer Pioniere Gruppen von Freunden waren, die ihre Bücher und Zeitungen zusammenlegten, um kleine Bibliotheken in ihren Dörfern und Städten zu gründen. So erinnerte sich P. N. Panicker, der als Vater der Bibliotheksbewegung in Kerala bekannt ist, daran, wie sich acht bis zehn Leute bei ihm zu Hause versammelten und ihn baten, die Zeitung vorzulesen nachdem es ihm gelungen war, eine solche zu abonnieren – eine Möglichkeit, die größtenteils den Wohlhabenden vorbehalten war. «An Tagen, an denen wir die Zeitung nicht bekamen, las ich ihnen Biografien großer Männer vor», sagte er, «ein Freund von mir hatte zwei andere Tageszeitungen abonniert und besaß eine kleine Büchersammlung. Wir trugen diese Bücher und Zeitungen in einem kleinen Raum zusammen, den wir zu diesem Zweck kostenlos gemietet hatten, und gründeten eine kleine Bibliothek».[20] Es gibt Tausende solcher Geschichten. Viele dieser Bibliotheken wurden später Teil des staatlichen Bibliothekssystems, und profitierten davon durch die Bereitstellung von Ressourcen. Solche kleinen Bibliotheken sind nach wie vor die Basis der Bibliotheksbewegung in Kerala, wo sie begründet wurde und bis heute fest verankert ist, aber auch in anderen Teilen Indiens.
Mayyil Panchayat Grama zum Beispiel ist mit über 29.000 Einwohnern eine der 93 Gemeinden in Kannur, dem Distrikt mit den meisten Bibliotheken in Kerala. In dieser Gemeinde gibt es 34 Bibliotheken, die dem Kerala State Library Council angeschlossen sind. Das bedeutet, dass es fast eine Bibliothek pro Quadratkilometer gibt, jede mit einer Kapazität von fast 900 Personen. Das ist im weltweiten Vergleich eine außergewöhnliche Dichte an Bibliotheken. Diese Bibliotheken werden vom Staat gut finanziert, sind mit Computern und einem einheitlichen Katalog ausgestattet und verfügen über gut ausgebildete Bibliothekare, die für die Bevölkerung eine engagierte und verfügbare Ressource darstellen.
Jede dieser Bibliotheken hat eine Vorgeschichte, und viele von ihnen sind nach sozialen Aktivisten, nationalen oder kommunistischen Führern benannt. Hier sind ein paar von ihnen in Kannur:
- Velam Public Reading Hall (Velam Potujana Vaayanashaala) in Mayyil.[21] Im Jahr 1934 kam das Mitglied des Indischen Nationalkongresses Ishwaran Namboothiri in das Mayyil Panchayat (Dorfrat), um die Hindi-Sprache unter den Dorfbewohnern zu fördern. Er baute einen kleinen Schuppen für seine Schule, der schließlich zu einer Bibliothek wurde, die heute 18.000 Bücher beherbergt.
- Paral Public Reading Hall (Paral Potujana Vaayanashaala), in Thalassery. 1934 schenkte ein sechzehnjähriges Mädchen namens Kaumudi ihren Goldschmuck an M. K. Gandhi als Beitrag zur Freiheitsbewegung gegen die britische Herrschaft. Mit dem Geld aus dem Gold wurde die Einrichtung der Bibliothek finanziert, die heute auch ein Archiv zur Geschichte der Region einschließt.
- J. M. Reading Hall & National Library (S. J. M. Vaayanashaala & Desheeya Granthaalayam), in Kandakkai. Während der sozialen Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts in Kerala ging ein Mann namens Sree Jathaveda Guru nach Kandakkai und unterrichtete die Dorfbewohner über den Kampf gegen die Kastenhierarchien und Diskriminierung. Im Rahmen dieser Arbeit richtete Guru eine kleine Bibliothek ein, die inzwischen auf eine Sammlung von über 10.000 Büchern angewachsen ist.
- Madhavan Memorial Reading Hall (C. Madhavan Smaaraka Vaayanashaala), in Pinarayi. Die erste Konferenz der Kommunistischen Partei Indiens in Kerala wurde 1939 heimlich in Pinarayi abgehalten. Zwei Jahrzehnte später gründete die fortschrittliche Jugendorganisation Sree Narayana Aashrita Yuvajana Sangham die C. Madhavan Memorial Library, benannt nach einem sozialen Aktivisten. Durch ein lokales Spendensystem werden hier jedes Jahr Tausende von Büchern gesammelt und archiviert. Dieser Gemeinschaftsgeist hat sich ausgeweitet: Wenn in der Gegend ein neues Haus gebaut wird, wird in der Nähe ein Obstbaum im Namen der Bibliothek gepflanzt.
- Lesesaal und Bibliothek in Kulappuram (Kulappuram Vaayanashaala & Granthaalayam), in Ezhome. In den 1950er Jahren errichteten die Weber des Dorfes Ezhome einen Lesesaal, den Young Men’s Club. Dieser Lesesaal ist heute eine dreistöckige klimatisierte Bibliothek mit einem Raum für öffentliche Veranstaltungen, einem großen Spielplatz und einem Gemüsegarten. Die Bibliothek bietet auch einzigartige soziale Dienste an, darunter die Auslieferung von Büchern sowie Motorradfahrkurse für Frauen, die mehr als hundert Frauen zum Erwerb des Führerscheins verholfen haben. Im Jahr 2008 führte die Bibliothek in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitspersonal des Government Medical College Kannur in Pariyaram Besuche in 700 Haushalten des Dorfes durch. Ärzte und Bibliothekare besuchten jedes Haus in dem Gebiet, um Gesundheitsinformationen zu sammeln und über kommunale Dienstleistungen zu informieren.
- Homeland Upliftment Reading Hall & Public Library (Deshoddhaarana Vaayanashaala & Public Library), in Chala. Diese bescheidene Bibliothek am Rande eines Dattelpalmenhains wurde in den 1960er Jahren von Bauern gegründet, die ihren Lebensunterhalt mit dem Drehen von Beedi (handgedrehten Zigaretten, die bei den Arbeitern auf dem indischen Subkontinent beliebt sind), dem Weben von Stoffen und als Tagelöhner verdienten. Diese Bauern legten ihr Geld zusammen, um einen Ort zum Lesen und Nachdenken zu schaffen. Heute verfügt die Bibliothek über rund 9.000 Bücher.
- Thaliyan Raman Nambiar Memorial Public Reading Hall (Thaliyan Raman Nambiar Smaaraka Potujana Vaayanashaala), in Kavumbayi. Der führende Aktivist Thaliyan Raman wurde 1946 während eines Bauernaufstandes in Kavumbayi verhaftet und vier Jahre später bei einem Massaker im Gefängnis von Salem von der Polizei getötet. Im Jahr 1962 errichteten die örtlichen Bauern ihm zu Ehren diese Bibliothek.
- Avon-Bibliothek (Karivellur). Was als Avon Club begann, wurde 1973 in die Avon Bibliothek umgewandelt, die heute etwa 18.000 Bände umfasst und mehr als 600 Mitglieder hat. Die Bibliothek veranstaltet Lesungen für Kinder sowie Filmvorführungen und beliefert ältere Menschen zu Hause mit Büchern. Eine Arbeitsgemeinschaft in der Bibliothek, die sich mit der Lokalgeschichte befasst, gab den Anstoß zu zwei geschichtswissenschaftlichen Dissertationen, die von ortsansässigen Wissenschaftlern verfasst wurden.
Während der Pandemie trug die Infrastruktur der Bibliotheksbewegung entscheidend dazu bei, dass die Dörfer sicher waren und die Schüler ihre Ausbildung fortsetzen konnten. Ein bemerkenswertes Beispiel hierfür ist das NetWork-Projekt, das in Kannur mit dem Ziel begann, die soziale Entwicklung in den Adivasi (Stammesgebieten) des Bezirks zu fördern. Das Projekt wurde von Dr. V. Sivadasan, einem CPI(M)-Politiker und Mitglied der Rajya Sabha (Oberhaus des indischen Parlaments), geleitet und wurde bald zu einem integralen Bestandteil der People’s Mission for Social Development (PMSD), einer Stiftung des Kannur District Library Council mit dem Ministerpräsidenten von Kerala, Pinarayi Vijayan, als Schirmherrn und Sivadasan als Vorsitzenden. Der PMSD hat sich verpflichtet, in jedem Bezirk (der kleinsten Wahlkreiseinheit im indischen Verwaltungssystem) eine Bibliothek einzurichten. Im Rahmen dieser Initiative arbeitete der PMSD mit der Universität Kannur und dem Bibliotheksrat von Kerala zusammen und richtete im Januar 2023 den ersten indischen Bibliothekskongress aus, an dem eine halbe Million Menschen teilnahmen. Im Zuge des Kongresses veranstalteten die Organisatoren 1.500 Seminare zu einer Vielzahl von Themen. Daran nahmen 3.000 Bibliothekare teil, zu denen Mitarbeiter der lokalen Selbstverwaltungseinrichtungen, Regierungsbeamte, Genossenschaftsmitarbeiter, Studenten, Lehrer und andere hinzukamen.
Der Indische Bibliothekskongress ist zu einer jährlichen Veranstaltung geworden, die in verschiedenen Bundesstaaten Indiens stattfindet, um die folgenden Ideen zu fördern:
- Es muss in möglichst vielen Orten Bibliotheken geben und diese Bibliotheken sollen nicht nur Bücher, sondern auch modernste Technologien bereithalten.
- Diese Bibliotheken sollen nicht nur in städtischen Gebieten, sondern auch in ländlichen und abgelegenen Gegenden eingerichtet werden, wie z. B. in den hügeligen Gebieten von Wayanad im Nordosten von Kerala.
- Diese Bibliotheken müssen ein wichtiger und aktiver öffentlicher Raum für die lokale Gemeinschaft werden sowie Inkubatoren für die kulturelle Entwicklung. Sie sollten zentrale Orte für die Organisation und/oder Durchführung von kulturellen Aktivitäten sein wie etwa Filmvorführungen, Sportveranstaltungen, Kunstmessen, Festivals und Berufsbildungskursen. Neben den Bibliotheken sollten auch Gesundheitszentren und Angebote für wissenschaftliche Kurse aufgebaut werden.[21]
Die Bibliotheksbewegung wird von ganz normalen arbeitenden Menschen getragen. Einer von ihnen ist Rajan V. P. aus Payyannur Annur, ein Lederwarenarbeiter mit einer Schulbildung von sechs Klassen. In jungen Jahren arbeitete Rajan in einer Zigarettenfabrik, in der die Arbeiter sich abwechselnd vor dem Mittagessen die Tageszeitung und nach dem Mittagessen einen Roman vorlasen (eine Praxis, die auch in kubanischen Zigarrenwerkstätten zu finden ist). Die Lektüre inspirierte Rajan zu einem weiterführenden Studium, das ihm eine neue Stelle als Angestellter in einer Genossenschaftsbank in der Nähe seines Wohnorts verschaffte. Im Jahr 2008 war er bereits Manager der Bank. Im selben Jahr gründete Rajan die Volksbibliothek und den Lesesaal, die sich inzwischen zu einem Zentrum des kulturellen Lebens in der Stadt entwickelt haben.
Eine weitere Schlüsselfigur der Bibliotheksbewegung ist Radha V. P. (60 Jahre alt), eine Textilarbeiterin mit einer siebenjährigen allgemeinen Schulbildung, die schon in jungen Jahren den Haushalt führte. Als junges Mädchen begann sie, die Wochenzeitschrift der CPI(M), Deshabhimani, zu lesen und Briefe an die Redaktion zu schreiben, in denen sie die Geschichten und Gedichte kommentierte. Im Jahr 2002 schloss sich Radha der im Jahr zuvor gegründeten Jawahar Library an, die Bücher zu den Häusern der Leser bringt, insbesondere zu Frauen und älteren Menschen. Zu sehen wie sie nach der Arbeit mit einem Bibliotheksregister in der Hand und einer Tasche voller Bücher auf der Schulter in jeden Haushalt geht, wurde bald zu einem Quell der Freude für die Einheimischen. Im Jahr 2018 schloss sie die zehnte Klasse ab und bestand das Staatsexamen, das für die Zulassung zur höheren Bildung erforderlich ist. Doch selbst inmitten von Studium und Arbeit ließ ihr Engagement für die Bibliothek nie nach. «Das ist ein Job, den ich liebe», sagt sie. «Ich hatte nie das Gefühl, dass die Tasche schwer war, denn der Duft der Bücher hat mich immer sehr glücklich gemacht».[22]
Berufstätige Menschen wie Rajan und Radha sind das Herz der florierenden Bibliotheksbewegung in ganz Kerala.

Tag der roten Bücher, von Japan bis zum Mond
Am 21. Februar 2019 rief die Indische Gesellschaft für linke Verleger, eine Gruppe von Verlegern, die der CPI(M) angehören, ins Leben, was bald als Red Books Day bekannt werden sollte. Mit der Begehung dieses Jahrestages wird an die Veröffentlichung des Kommunistischen Manifests im Jahre 1848 sowie an den Internationalen Tag der Muttersprache erinnert. Er dient der Festigung des kollektiven Lebens auf einer säkularen, kulturellen und sozialistischen Grundlage. Der Tag des Roten Buches erregte bald das Interesse von Verlegern aus der ganzen Welt. Im Jahr 2020 wurde er von mehr als 30.000 Menschen von Südkorea bis Kuba gefeiert.[23] Im Jahr 2024 zählte der Red Books Day über eine Million Teilnehmer bei Veranstaltungen von Indonesien bis Chile (eine halbe Million davon allein in Kerala).[24]
2020, dem ersten Jahr, in dem die Feierlichkeiten über die Grenzen Indiens hinausgingen, stellten Mitglieder von Bauernorganisationen und Gewerkschaften in kleinen Dörfern in Tamil Nadu Kreise aus Plastikstühlen auf die Straße und diskutierten das Kommunistische Manifest. In den Siedlungen der brasilianischen Landlosenbewegung (MST) saßen die Mitglieder während der Karnevalsfeierlichkeiten zusammen und lasen abwechselnd laut vor. In den Bergen Nepals diskutierte die Gewerkschaft der Landarbeiter über ihre eigenen roten Bücher, während landlose Bauern in Tansania über die Bedeutung der Alphabetisierung sprachen.
Vier Jahre später wurde der 21. Februar auf der zehntägigen Buchmesse in Havanna (Kuba) zum Anlass für eine spezielle Veranstaltungsreihe zum Tag des Roten Buches genommen. In Kerala produzierte Chemm Parvathy zum Red Books Day ein Video, in dem sie auf den Märkten und in den Werkstätten von Trivandrum zur französischen Version der Internationale tanzt. Das Lied gipfelt darin, dass Chemm Parvathy an einem Strand, während hinter ihr die rote Sonne am Horizont zu sehen ist, eine kommunistische Fahne hochhält. Parallel zu ihrem Video wurde eine Reihe von Plakaten veröffentlicht, die von Künstlern aus der ganzen Welt gestaltet wurden, um an diesen Jahrestag zu erinnern und immer mehr Menschen zu ermutigen, Lesungen und Aufführungen in ihren Orten zu organisieren.
Zur Vorbereitung des ersten internationalen Red Books Day 2020 berief die indische Gesellschaft der linken Verleger verschiedene Treffen von Verlegern aus der ganzen Welt ein. Diese führten zur Gründung der International Union of Left Publishers (IULP), der heute fünfundvierzig Verleger angehören.[25] Die IULP wurde nicht nur gegründet, um den Red Books Day zu fördern, sondern auch, um linken Verlegern eine Plattform zu bieten, um sich gegen Angriffe von rechts zu wehren und rationale und sozialistische Ideen zu fördern. Die IULP hat anlässlich des Red Books Day mehrere gemeinsame Bücher in verschiedenen Sprachen – von Rumänisch bis Indonesisch – herausgegeben (u. a. zu den Schriften von Che Guevara und zum Gedenken an die Pariser Kommune) und hat Erklärungen zur Verteidigung von Autoren und Verlegern veröffentlicht, wenn diese angegriffen wurden.[26]
Die Bibliotheksbewegung hat in öffentlichen Bibliotheken in ganz Kerala Veranstaltungen zum Tag des Roten Buches abgehalten, bei denen Kulturschaffende sangen und schauspielerten, und Hunderttausende von Menschen miterlebten, wie die Stimme der Vernunft und sozialistischen Hoffnung erklang.
Der Tag des Roten Buches ist Teil eines umfassenderen kulturellen Kampfes zur Verteidigung der Freiheit und des Rechts, rote Bücher zu schreiben, zu veröffentlichen und zu lesen. Und es ist der Kampf gegen zeitgenössische obskure Ideen, Falschinformationen und Propaganda, die die Vernunft untergraben. Es besteht die Hoffnung, dass dieser Tag über die Beteiligung der IULP hinaus zu einem wichtigen Datum im Kalender progressiver Kräfte wird. Schon jetzt haben sich Einzelpersonen und Organisationen, weit über die Kreise der IULP und der linken Strömungen hinausgehend, den Tag des Roten Buches zu eigen gemacht und begehen ihn auf vielfältige Art und Weise. Wir hoffen, dass bis zum Ende des Jahrzehnts über zehn Millionen Menschen am Red Books Day teilnehmen werden.
In den 1930er Jahren schrieben Frauen aus den Kolchosen von Georgijewsk im Nordkaukasus einen Brief an die sowjetische Regierung. «Natürlich müssen wir studieren, um große Betriebe richtig führen zu können«, schrieben sie. «Wir wollen den ganzen Winter studieren, lesen und schreiben lernen, die Grundlagen des politischen Wissens und der wissenschaftlichen Landwirtschaft studieren. Gebt uns mehr Bücher und Hefte, denn der Wunsch, zu lernen, ist bei den Frauen sehr groß». Eine dieser Frauen, Fekla Golowtschenko (fast fünfzig Jahre alt), fügte hinzu: «Wenn ich nicht richtig ausgebildet bin, kann ich meine Brigade nicht leiten». Bildung, so die Frauen, «ist kein Luxus mehr. Sie ist eine absolute Notwendigkeit, wie Wasser für einen durstigen Menschen».[27]
Die Worte der Georgijewsk-Frauen spiegeln die Worte von Paloma Saiz Tejero von der Brigade zum Lesen in Freiheit wider, die uns mitteilte:
«Ein Volk, das liest, ist ein Volk, das kritisches Denken entwickelt; es ist ein Förderer von Utopien. Ein Volk, das seine Geschichte kennt und sie sich zu eigen macht, wird stolz auf seine Wurzeln sein. Lesen sozialisiert; es teilt Erfahrungen und Informationen. Bücher ermöglichen es uns, den Grund zu verstehen, der uns und unsere Geschichte ausmacht; sie lassen unser Bewusstsein über den Raum und die Zeit hinauswachsen, die unsere Vergangenheit und Gegenwart begründen. Lesen macht uns zu besseren Menschen. Dank der Bücher lernen wir, an das Unmögliche zu glauben, dem Offensichtlichen zu misstrauen, unsere Rechte als Bürger einzufordern und unsere Pflichten zu erfüllen. Lesen beeinflusst die persönliche und soziale Entwicklung des Einzelnen; ohne Lesen kann sich keine Gesellschaft weiterentwickeln.»

Fußnoten
[1] John Reed, Zehn Tage, die die Welt erschütterten [Ten Days That Shook the World (Wien-Berlin: Verlag für Literatur und Politik, 1927), https://www.marxists.org/deutsch/archiv/reed/1919/10tage/#n1.
[2] Omar Martínez Legorreta, Modernisation and Revolution in Mexico: A Comparative Approach [Modernisierung und Revolution in Mexiko: Eine vergleichende Studie] (Tokio: Universität der Vereinten Nationen, 1989), 71.
[3] James Presley, «Mexican Views on Rural Education 1900-1910», The Americas 20, Nr. 1 (Juli 1963): 64-71.
[4] Jacqueline Paola Ayala Zamora, La obra educativa de José Vasconcelos [Das pädagogische Werk von José Vasconcelos] (Mexiko-Stadt: Universidad Pedagógica Nacional, 2005).
[5] José Vasconcelos, Education in Mexico: Present Day Tendencies [Bildung in Mexiko: Heutige Tendenzen], Bulletin of the Pan American Union 56, Nr. 3 (Januar-Juni 1923): 230-245.
[6] Patience Alexandra Schell, Church and State Education in Revolutionary Mexico City [Kirchliche und staatliche Bildung im revolutionären Mexiko-City] (Tuscon: University of Arizona Press, 2003); Lloyd Hughes, Las misiones culturales mexicanas y su programa [Mexikanische Kulturmissionen und ihr Programm] (Paris: UNESCO, 1950); Martha Eva Rocha Islas, Los rostros de la rebeldía. Veteranas de la Revolución Mexicana, 1910-1939 [Die Gesichter der Rebellion. Veteraninnen der mexikanischen Revolution, 1910-1939)] (Mexico City: Secretaría de Cultura, 2016); Paco Ignacio Taibo, Bolcheviques: historia narrativa de los orígenes del comunismo en México 1919-1925 [Die Bolschewiki: Eine erzählende Geschichte der Anfänge des Kommunismus in Mexiko 1919-1925] (Mexiko-Stadt: Joaquín Mortiz, 1986).
[7] Louise Schoenhals, «Mexico Experiments in Rural and Primary Education, 1921-1930» [Mexikos Bildungsexperimente im ländlichen Raum und im Grundschulwesen, 1921-1930] Hispanic American Historical Review 44, no. 1 (1. Februar 1964): 22-43.
[8] Elsa Margarita Ramírez Leyva, «Mexiko liest: Nationales Programm zur Förderung des Lesens und des Buches» (Vortrag auf dem World Library and Information Congress: 77th IFLA General Conference and Assembly, San Juan, Puerto Rico, 13-14 August 2011).
[9] Ángel Vargas, «Leer te hace mucho más crítico y te da armas para defenderte todos los días»: Paloma Saiz [Lesen macht dich viel kritischer und gibt dir Waffen, um dich jeden Tag zu verteidigen: Paloma Saiz], La Jornada, 18. Juli 2024, https://www.jornada.com.mx/2024/07/18/cultura/a04n2cul.
[9] «The Single Greatest Educational Effort in Human History» [Die größte Bildungsinitiative in der Geschichte der Menschheit], Language Magazine (Blog), 8. November 2024, https://www.languagemagazine.com/the-single-greatest-educational-effort-in-human-history/.
[11] Wang Yianwei und Li Jiyuan, Reform in Literacy Education in China [Reform der Alphabetisierungsarbeit in China] (Genf: UNESCO, International Bureau of Education, 1990).
[12] Glen Peterson, The Power of Words: Literacy and Revolution in South China, 1949-1995 [Die Macht des Wortes: Alphabetisierung und Revolution in Südchina, 1949-1995]
(Vancouver: University of British Columbia Press, 1997), 3.
[13] Auch wenn dies in diesem Dossier nicht ausführlich behandelt wird, hatte die Sowjetunion aufgrund ihrer Alphabetisierungskampagnen doch Vorbildcharakter in der übrigen Welt. Die Statistiken über die sowjetische Alphabetisierung erzählen nicht die ganze Geschichte, nicht wie die Sowjets die Geißel des Analphabetismus so schnell besiegen konnten. So richteten sie etwa in den ländlichen Gebieten des ehemaligen Zarenreichs Lesehütten (izby-chital’ny) und in den Steppen «rote Jurten» (Zelte) ein, in denen sie medizinische Einheiten und Alphabetisierungsteams unterbrachten. Diese Geschichte ist nie richtig erzählt worden.
[14] V. I. Lenin, Die Neue Ökonomische Politik [The New Economic Policy], Lenin Gesammelte Werke [Lenin Collected Works], Bd. 33, (Berlin: Dietz Verlag, 1977), 59.
[15] Heidi Ross, mit Beiträgen von Jingjing Lou, Lijing Yang, Olga Rybakova und Phoebe Wakhunga, China Country Study, Hintergrundpapier für den Education for All Global Monitoring Report 2006: Literacy for Life (2005), UNESCO, 2006/ED/EFA/MRT/PI/85.
[16] Peterson, Die Macht der Worte, 85.
[17] Priscilla C. Yu, «Leaning to One Side: The Impact of the Cold War on Chinese Library Collections» [Auf eine Seite geblickt: Die Auswirkungen des Kalten Krieges auf chinesische Bibliothekssammlungen], Bibliotheken und Kultur 36, Nr. 1 (2001): 256; Zhixian Yi, «History of Library Developments in China» (Vortrag auf der Konferenz «Future Libraries: Infinite Possibilities» [Bibliotheken der Zukunft: Unendliche Möglichkeiten], Sitzung 164, Library History Special Interest Group, International Federation of Library Associations and Institutions Conference, Singapore, 15-23 August 2013).
[18] Xi Jinping, «Full Text of Xi Jinping’s Congratulatory Letter to the First National Conference on Reading», China Daily, 23. April 2022, https://www.chinadaily.com.cn/a/202204/23/WS6263ad99a310fd2b29e58dbf.html.
[19] State Planning Board, Government of Kerala, «Population and the Macro Economy» [Bevölkerung und Makroökonomie], in Economic Review 2017 (Thiruvananthapuram: Government of Kerala, Januar 2018), Zugriff am 12. Januar 2025, https://spb.kerala.gov.in/economic-review/ER2017/web_e/ch11.php?id=1&ch=11.
[20] Lawrence Liang und Aditya Gupta, The Public Library Movement in India: Bedrock of Democracy and Freedom [Die Bewegung der öffentlichen Bibliotheken in Indien: Grundpfeiler der Demokratie und Freiheit] (Public Resource, 2024), 54-55.
[21] In Malayalam, der Sprache, die in Kerala gesprochen wird, bedeutet granthaalayam Bibliothek, während vaayanashaala Lesesaal bedeutet, ein Ort, an dem Menschen sitzen und lesen können, wobei es sich manchmal um kleine Räume handelt, in denen nur einige Zeitungen und Zeitschriften, aber nur wenige oder gar keine Bücher vorhanden sind. Manchmal wird vaayanashaala jedoch auch als Bezeichnung für eine Bibliothek verwendet. Alle hier aufgeführten Einrichtungen verfügen über eine Bibliothek und einen Lesesaal, wie dies bei den meisten Bibliotheken in Kerala der Fall ist.
Die hier in Klammern angegebenen Namen sind die offiziellen Namen der Bibliotheken. Einige dieser Namen enthalten Wörter in Malayalam und Englisch. Die Malayalam-Schrift ist phonetisch, was bedeutet, dass die Wörter so ausgesprochen werden, wie sie geschrieben werden. Im Laufe der Zeit wurden Malayalam-Wörter jedoch häufig mit Schreibweisen ins Englische transliteriert, die eine ungenaue Vorstellung davon vermitteln, wie die Wörter auszusprechen sind. Wir haben hier Schreibweisen verwendet, die der Aussprache der Malayalam-Wörter so nahe wie möglich kommen. Bei Eigennamen wurden die weit verbreiteten Standardschreibweisen beibehalten, auch wenn ihre Transliterationen nicht der tatsächlichen Aussprache entsprechen.
[22] P. Mohandas und Manu M. R., Hrsg., People Own Spaces: Emergence of Libraries in Kerala [Menschen brauchen Räume: Die Entstehung von Bibliotheken in Kerala] (Kannur: Indian Library Congress, 2024).
[23] M. A. Rajeev Kumar, «Bag Full of Joy and Wisdom» [Eine Tasche voller Freude und Weisheit], The New Sunday Express, 26. Juni 2022.
[24] «Red Books Day Celebrated on Each Continent», Tricontinental: Institute for Social Research, 30. April 2020, https://thetricontinental.org/booklet-red-books-day/.
[25] Nitheesh Narayanan, Sudhanva Deshpande und Vijay Prashad, «Red Books Day 2024», Peoples Democracy, 3. März 2024, https://peoplesdemocracy.in/2024/0303_pd/red-books-day-2024.
[26] International Union of Left Publishers, «Who We Are», https://iulp.org/about.
[27] Eine vollständige Liste finden Sie unter «Books», Tricontinental: Institute for Social Research, https://thetricontinental.org/books/.
[28] Georgii Nikolaevich Serebrennikov, The Position of Women in the USSR [Die Stellung der Frau in der UdSSR] (London: Victor Gollancz, 1937), 81.