Im Geiste von Bandung
Reflexionen 70 Jahre nach der antikolonialen Konferenz
Tricontinental: Institute for Social Research
April 2025

Dieser Artikel wurde in der Zeitschrift INTERNATIONAL veröffentlicht und ist eine gekürzte und übersetzte Fassung des Dossiers Nr. 87 von Tricontinental.
Im Jahr 1955 trafen sich in Bandung in Indonesien die Regierungschefs von neunundzwanzig afrikanischen und asiatischen Ländern sowie Vertreter von Kolonien, die ihre Unabhängigkeit noch nicht erlangt hatten, zur Asiatisch-Afrikanischen Konferenz. Zu diesem historischen Treffen lud der erste Präsident Indonesiens Sukarno, der Indonesien in die Unabhängigkeit geführt hatte, und es war das erste Mal, dass Vertreter von Hunderten von Millionen Menschen aus der Dritten Welt zusammenkamen, um über den enormen gesellschaftlichen Prozess der Entkolonialisierung zu diskutieren und seine Auswirkungen zu bewerten, und war somit einer der Höhepunkte im Prozess der Entkolonialisierung. Unter den politischen Führern gab es Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich des Wesens des Kolonialismus, und die Konferenz war zuweilen von hitzigen Debatten geprägt. Doch als sie zu Ende ging, war ein Konsens auf der Basis antikolonialer und antimilitaristischer Prinzipien erreicht. In der 10-Punkte-Erklärung von Bandung wurden die Grundsätze der „friedlichen Koexistenz“ und der „Nichtpaktgebundenheit” festgeschrieben.
Die Nichtpaktgebundenheit entwickelte sich in den folgenden Jahren nach der Bandung-Konferenz zur festen „Bewegung der Blockfreien Staaten“. Die westlichen Staaten waren bestrebt, ihre ehemaligen Kolonien durch militärische Paktbindungen in den „kalten Krieg“ gegen die Sowjetunion und die Sache der nationalen Befreiung einzubinden. Die Middle East Treaty Organization (METO) wurde beispielsweise konzipiert, um ein NATO-Pendant an der südwestlichen Grenze der Sowjetunion zu errichten. Die damalige Ablehnung jeder Blockbindung richtete sich in erster Linie gegen diese imperialistische Politik. Und um sich vom Schweizer Modell der passiven Neutralität abzugrenzen, verwendeten Staatsmänner wie der indische Premierminister Jawaharlal Nehru den Begriff „positive Neutralität“. So bestand der „Geist von Bandung“ im Wesentlichen im aktiven Widerstand gegen die andauernde politische und wirtschaftliche Einmischung der alten Kolonialmächte in die Belange der ehemaligen und noch bestehenden Kolonien.
Neben der Forderung nach Souveränität und Frieden trug die Zeit um die Bandung-Konferenz auch den Keim für eine neue internationale Wirtschaftsordnung in sich. Die Süd-Süd-Zusammenarbeit war der klare Ruf von Bandung. Der erste Abschnitt des Abschlusskommuniqués der Konferenz war ganz der wirtschaftlichen Zusammenarbeit gewidmet und verdeutlichte das Streben und die Absicht nach wirtschaftlicher Entwicklung und technischer Zusammenarbeit. Da die Kapitalinteressen, die sich im Imperialismus offenbaren, Kolonien nur als Standorte zur Gewinnung von Rohstoffen sehen, wurde die Notwendigkeit betont, Rohstoffpreise zu stabilisieren und inländische Kapazitäten für die Verarbeitung dieser Rohstoffe vor dem Export zu entwickeln. Eine der bleibenden Auswirkungen der Konferenz war ihr Einfluss auf die Gestaltung multilateraler Institutionen und Prozesse, die bis zum heutigen Tag fortbestehen, wenn auch oft schwach oder in kooptierter Form. Dazu gehören das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen und die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD).
Konterrevolution gegen die Befreiung
Nach der Welle nationaler Befreiung in den 1950er und frühen 1960er Jahren setzte die Konterrevolution in der Mitte des Jahrzehnts zum allseitigen Gegenangriff an. Sukarnos Regierung wurde zehn Jahre nach der Bandung-Konferenz durch einen vom Westen unterstützten Militärputsch gestürzt. Mithilfe von Geheimdienstinformationen der CIA und des westdeutschen BND ließ die neue Militärregierung mehr als eine Million indonesische Kommunisten ermorden. Ähnliche Putsche gegen die sozialistisch orientierten Regierungen in Ghana und Mali folgten in den Jahren 1966 und 1968. Regierungen, die von den gewalttätigen imperialistischen Interventionen verschont blieben, wurden entweder gekauft (beispielsweise Ägypten nach dem Tod Nassers) oder schlichtweg von der kapitalistischen Weltwirtschaft geschluckt. Finanzsysteme wie der Internationale Währungsfonds zwangen den Staaten in Afrika, Asien und Lateinamerika eine Schuldenlast auf, die sie bis heute nicht abschütteln konnten. Der Geist von Bandung war somit ab den 1980er Jahren weitgehend gebrochen. Mit der Niederlage der UdSSR verloren die Befreiungsbewegungen schließlich ihren stärksten Partner und waren zu einem langen Rückzug gezwungen.
Ein neuer Aufbruch?
Mit dem Beginn der Dritten Großen Weltwirtschaftskrise (2007-2008) wurde wieder einmal offensichtlich, dass der Westen den Aufstieg des globalen Südens weder zulassen noch ermöglichen würde. Aus dieser Erkenntnis entstand 2009 der BRICS-Prozess, der 2025 um fünf weitere Länder (Ägypten, Äthiopien, Indonesien, Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate) und dreizehn Partnerstaaten erweitert wurde. Während sich die ersten BRICS-Gipfel auf die Süd-Süd-Zusammenarbeit bzw. auf Handel und Investitionen im globalen Süden konzentrierten, wurde bei den nachfolgenden Gipfeltreffen die Idee der wirtschaftlichen Unabhängigkeit vom globalen Norden und die Idee des politischen Multilateralismus anstelle der von den USA betriebenen Unipolarität wieder aufgegriffen. Für eine umfassende Bewertung der Wirkung des BRICS-Prozesses ist es nach nur 16 Jahren seiner Existenz noch zu früh.
Selbst in dieser relativ kurzen Zeit gab es zudem politische Differenzen zwischen den Mitgliedsländern, die von den wechselnden Führungspersönlichkeiten nicht ausgeglichen wurden. Auftrieb erhielten der BRICS-Prozess und andere Süd-Süd-Strukturen durch das Wirtschaftswachstum, das die großen Länder Asiens (insbesondere China, Vietnam, Indien, Bangladesch und Indonesien) prägt.
Die Verlagerung des Schwerpunkts der Weltwirtschaft nach Asien führte zu einer neuen Zuversicht oder „neuen Stimmung“ im globalen Süden, da die Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas in Bezug auf Finanzen und Technologie nicht mehr so stark auf die Institutionen des globalen Nordens angewiesen waren. Chinas „Neue Seidenstraße”-Initiative (Belt and Road Initiative, BRI), die 2013 als Reaktion auf die Dritte Große Weltwirtschaftskrise verabschiedet wurde, war in dieser Hinsicht eine äußerst wichtige Entwicklung, da sie objektive Bedingungen für die Süd-Süd-Zusammenarbeit schuf, die zur Zeit der Bandung-Konferenz einfach nicht existierten. Projekte wie der Bau von Eisenbahnen in Ostafrika oder die Eröffnung eines neuen Hafens in Peru schaffen Voraussetzungen für den Binnenhandel zwischen den Ländern des globalen Südens. Auch wenn es noch viel zu früh ist, um zu sagen, dass so etwas wie eine Abnabelung von den den Weltmarkt dominierenden ehemaligen Kolonialmächten stattgefunden hat, so sind doch Veränderungen zu beobachten, da China inzwischen wichtigster Handelspartner für über 120 Länder ist. Bis 2023 werden 46,6 % des chinesischen Handels mit Ländern des Neue Seidenstraßen-Netzwerks abgewickelt. In der Zwischenzeit hat die „Neue Seidenstraße”-Initiative einige Höhen und Tiefen erlebt und verlangt von ihren Mitgliedsländern, dass sie ihre eigenen nationalen Entwicklungsprojekte einbringen.
Die Vision, die sich in der „neuen Stimmung” im globalen Süden kristallisiert, beruht auf zwei Konzepten, dem Regionalismus und dem Multilateralismus – beide vom Wunsch nach einer Demokratisierung der Weltordnung in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht motiviert. Von der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit bis hin zum Gemeinsamen Markt des Südens (Mercosur) ist dieser Regionalismus bereits im Entstehen begriffen und wird durch eine Zunahme des Handels in lokaler Währung flankiert. Dem Regionalismus ist die Idee des Multilateralismus verbunden, also die Überzeugung, dass globale Institutionen (wie die Vereinten Nationen und die Welthandelsorganisation) keine Instrumente des globalen Nordens sein dürfen, sondern ihre Agenda von allen ihren Mitgliedsstaaten gleichberechtigt gestaltet werden muss.

Herausforderungen und Schwachpunkte
In den 1950er und 1960er Jahren hatten die nationalen Befreiungsbewegungen eine Massenbasis (oft die Mehrheit der Bevölkerung). Obwohl diese Bewegungen – in den meisten Fällen – vom Kleinbürgertum und Teilen der Landelite angeführt wurden, zwang sie ihr Engagement für die nationale Befreiung dazu, einen sozialistischen Weg einzuschlagen, innerhalb der Strukturen des Neokolonialismus Regierungen zu übernehmen und auf ihre organisierte Massenbasis zu reagieren. Diese „Sozialismen“ hatten unterschiedliche Ausrichtungen, sei es der „sozialistische Weg zur Gesellschaft“ des zweiten indischen Fünfjahresplans, der afrikanische Sozialismus der Arusha-Erklärung von Julius Nyerere oder auch die Massenpolitik von Varianten des Populismus in Lateinamerika wie dem argentinischen Peronismus. Trotz der Klassenorientierung der Führungen dieser Tendenzen und der Enge ihrer eigenen Perspektiven ließen die aktivierten Massen nicht zu, dass sie das umfassendste Programm der nationalen Befreiung aufgaben. Man kann von einer Bandungbewegung von unten sprechen.
Heute ist der Zustand der Volksbewegungen viel schwächer. Nur in einigen wenigen Ländern des globalen Südens dominieren sie die Gesellschaft. Die fortschrittlichen Regierungen unserer Zeit sind Koalitionen verschiedener Klassen – einschließlich des Kleinbürgertums und der liberalen Bourgeoisie, die zwar das Diktat des Neoliberalismus nicht länger tolerieren, aber auch nicht ohne weiteres mit seinen wirtschaftlichen Prinzipien brechen werden. Die zweite „Rosa Welle” in Lateinamerika und die Entstehung fortschrittlicher Regierungen in Ländern wie Senegal und Sri Lanka sind zwar eine Folge des Zusammenbruchs des Neoliberalismus und eine Reaktion auf den Schrecken der Rechten, aber sie sind weder auf dem Rücken organisierter Massenbewegungen entstanden, noch sind sie um ein Programm vereint, das mit dem Neoliberalismus bricht. In der gesamten afrikanischen Sahelzone – in Niger, Mali und Burkina Faso – werden die antiimperialistischen Militärputsche von einer neuen Welle sozialer Bewegungen unterstützt, die noch dabei sind, ein umfassenderes Projekt für Souveränität und Entwicklung zu formulieren. Diese Entwicklungen sind geeignet, eine neue Stimmung zu erzeugen – einen „BRICS-Geist“ vielleicht – aber noch nicht das Äquivalent des Bandung-Geistes. Es wäre verfrüht, ja voluntaristisch, ein solches Phänomen zu verkünden, einen Bandung-Geist von unten für unsere Zeit, ein Massenphänomen, in der Lage, die eigentliche Bewegung der Geschichte voranzutreiben.
Der Hintergrund, vor dem sich diese neue Stimmung ausbreitet, und die sich abzeichnende Bedrohung, die eine Wiederbelebung des Geistes von Bandung erforderlich macht, ist der Hyperimperialismus. In unserer Forschung bei Tricontinental haben wir die These aufgestellt, dass es in der Welt nur einen wirklichen politisch-wirtschaftlich-militärischen Block gibt: das von den USA geführte Bündnis aus NATO und Israel. Trotz seiner schwindenden wirtschaftlichen und technologischen Hegemonie vereint dieser Block in sich eine beispiellose militärische Macht und kontrolliert das globale Informationssystem. Der Einsatz hybrider Kriegstaktiken und die Androhung oder Anwendung von Gewalt selbst gegen Nationen, die nur in bescheidenem Maße nach Souveränität streben, erfordert eine kollektive Antwort des globalen Südens, die die Form einer Wiederbelebung des Geistes von Bandung annehmen kann.
Es gibt jedoch eine Reihe von Faktoren, die das Entstehen einer neuen Bandung-Ära im Globalen Süden behindern:
- Es gibt nach wie vor eine Furcht vor und einen Wunsch nach westlicher Führung, trotz ihrer vielen Fehlschläge, ihrer Dekadenz und ihrer Gefährlichkeit. Es ist logisch, dass die Staaten des Globalen Südens die Drohkulisse eines Krieges fürchten, denn dies ist keine theoretische Annahme, sondern eine tatsächliche Option. Und so besteht angesichts der irrationalen Überreste der westlich dominierten internationalen Ordnung das Gefühl, dass westliche Führung notwendig ist.
- Im Globalen Süden herrscht Unklarheit über die in Asien, insbesondere in China, erzielten Fortschritte. Manche Länder halten diese Fortschritte – vor allem im Hinblick auf die qualitativ neuen Produktivkräfte – nicht für leicht wiederholbar, was zu einer allseitigen Unterschätzung der potenziellen Stärke eines kollektiv agierenden globalen Südens führt. Darüber hinaus gibt es – entgegen den vorliegenden Beweisen – eine wachsende Überzeugung, die vom Globalen Norden vorangetrieben wird, dass die Fortschritte der Lokomotiven des Globalen Südens für die ärmeren Länder gefährlich sind. Es wird suggeriert, dass die Fortschritte insbesondere der asiatischen Länder eine größere Bedrohung darstellen als die seit Hunderten von Jahren zu verzeichnende Unterjochung durch den globalen Norden.
- Es findet eine Kapitulation vor der Realität der Kontrolle des Westens über die digitale, mediale und finanzielle Landschaft statt, die als unübertrefflich dargestellt wird.
- Ein erheblicher Teil der herrschenden Wirtschaftselite im globalen Süden ist nach wie vor eng mit dem globalen Finanzkapital verflochten. Dies zeigt sich insbesondere in ihrer Abhängigkeit vom US-Dollar als sicherem Hafen für Investitionen und ihrer Beteiligung an der Abwanderung von Reichtum aus ihren eigenen Ländern zur Investition in die Immobilien- und Finanzmärkte des globalen Nordens. Diese Klasseninteressen werden bereitwillig von Intellektuellen und politischen Entscheidungsträgern unterstützt, die nicht über die Theorien der neoklassischen Wirtschaftswissenschaften und des Washington Consensus hinausblicken können oder wollen.
- In vielen unserer sozialen Bewegungen gibt es alte Gewohnheiten, dass die Linke sich permanent den Realitäten der Klassenpolitik widersetzen muss und dass wir unter diesen Bedingungen keine Macht gewinnen können. Jeder Kompromiss mit der Realität, um die Macht zu übernehmen und unsere Agenda weiter auszubauen, wird als Aufgabe unserer endgültigen Ziele gedeutet. Diese Verweigerung, die Machtfrage überhaupt zu stellen, war in der Ära der nationalen Befreiung unbekannt, als der Gewinn der Staatsmacht das unmittelbare und unumstößliche Ziel war. Es gibt sogar die Orientierung, dass es die Aufgabe linker Bewegungen sei, die Rechte zu bekämpfen, eine Dynamik gegen den Neoliberalismus aufzubauen und dann, anstatt die Staatsmacht zu fordern und zu ergreifen, diese an eine linke Mitte abzugeben. Die schlechteste Orientierung ist es immer noch, die Staatsmacht überhaupt nicht anzufechten.
Noch sind die Völker des Globalen Südens nicht in der Lage, einige dieser (und weitere) Herausforderungen zu überwinden. Wir treten langsam aus einer untergehenden Epoche der Geschichte, der Epoche des Imperialismus, heraus. Aber wir sind noch nicht in eine neue Ära eingetreten, die jenseits des Imperialismus liegt – doch der Geist von Bandung regt sich.