Kongo: Das Elend der Gegenwart wurzelt im Kolonialismus

Tricontinental: Institute for Social Research
Juni 2024

Dieser Artikel wurde in der Zeitschrift INTERNATIONAL veröffentlicht und ist eine gekürzte und übersetzte Fassung des Dossiers Nr. 77 von Tricontinental.

Die von Ruanda unterstützten M23-Rebellen drangen zuletzt immer weiter in die östlichen Provinzen der DR Kongo vor, wo seit dem ruandischen Völkermord 1994 ein aktiver Konflikt herrscht. Im Laufe von drei Jahrzehnten ist es trotz mehrerer Friedensabkommen (insbesondere des Abkommens von Lusaka1999, des Abkommens von Pretoria 2002, des Abkommens von Luanda 2002 und des Abkommens von Sun City 2003) nur selten zu einem dauerhaften Frieden gekommen. Über die Gesamtzahl der Todesopfer gibt es nur sehr wenige Angaben, aber vermutlich wurden über sechs Millionen Menschen getötet. Angesichts der hartnäckigen Gewalt im Osten der DR Kongo wächst die Hoffnungslosigkeit darüber, das Gemetzel dauerhaft zu beenden. Hinzu kommt die Unkenntnis der politischen Hintergründe dieses Konflikts und seiner tiefen Wurzeln sowohl in der Kolonialgeschichte der Region der Großen Seen als auch im Kampf um Rohstoffe, die für das elektronische Zeitalter von zentraler Bedeutung sind.

Ein Gewirr aus Kämpfen zwischen politischen und militärischen Organisationen – wie die Allianz Demokratischer Kräfte zur Befreiung Kongos (ADFL), die Demokratischen Kräfte zur Befreiung Ruandas (FDLR), der Kongolesische Zusammenschluss für Demokratie (RCD) und die Bewegung für die Befreiung des Kongo (MLC) – katapultierte die Region in Rohstoffkriege. Coltan-, Kupfer- und Goldvorkommen sowie die Kontrolle über die Grenzstraßen zwischen der DR Kongo und Uganda, die die östliche DR Kongo mit dem kenianischen Hafen Mombasa verbinden, machten diese bewaffneten Gruppen und einige wenige Mächtige sehr reich.

Der Kongo: Arm, weil reich

Kobalt, Lithium und Coltan: Dies sind die Mineralien, die für die vierte industrielle Revolution benötigt werden. Die Demokratische Republik Kongo (DR Kongo) ist für rund 71 % der weltweiten Kobaltproduktion und 35 % der weltweiten Coltanproduktion verantwortlich.1

Solange diese Mineralien im Kongo existieren, wird es Kräfte geben, die versuchen, das Land zu destabilisieren. Doch nicht die Mineralien sind die eigentliche Ursache des Problems – sondern der Kapitalismus. Was unterscheidet Norwegen, ein ressourcenreiches Land mit lukrativen Ölreserven, von der Demokratischen Republik Kongo?  Seine Position innerhalb der kapitalistischen Produktionskette: Während Norwegen von seinen Ressourcen profitiert, wurde die Demokratische Republik Kongo an deren unterstes Ende verbannt. Ihre Reichtümer werden ausgebeutet, und die anhaltende Gewalt wird bewusst in Kauf genommen.

Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) schätzt, dass das Land über unerschlossene Mineralreserven im Wert von 24 Billionen US-Dollar verfügt. Zudem beherbergt es mehr als die Hälfte der Wasserressourcen und Waldflächen Afrikas sowie 80 Millionen Hektar Ackerland – genug, um den gesamten Kontinent zu ernähren.2 Allein im Jahr 2022 exportierte die Demokratische Republik Kongo Kupfer und Kobalt im Wert von 25 Milliarden US-Dollar – eine Summe, die mehr als einem Drittel des nationalen BIP entsprach.3

Im selben Jahr stellte die Weltbank fest, dass etwa 74,6 % der Bevölkerung der Demokratischen Republik Kongo von weniger als 2,15 US-Dollar pro Tag leben und etwa jeder sechste Kongolese in extremer Armut lebt.4 Auf dem Human Development Index 2022 rangiert das Land auf Platz 180 von 193.5

Die Kluft zwischen dem nationalen Reichtum des Landes und der extremen Armut, unter der die Mehrheit leidet, ist erschütternd.

Die heutige Demokratische Republik Kongo ist nach wie vor vom transatlantischen Menschenhandel (vom 15. bis zum 19. Jahrhundert) und von der Kolonialisierung durch König Leopold II. (1884–1908) und deren Fortsetzung durch den belgischen Staat (1908–1960) geprägt. Sie wird von der Sabotage der Souveränität des Landes durch die Ermordung seines ersten demokratisch gewählten Führers Patrice Lumumba (1925–1961) und durch die Unterordnung seiner Eliten unter die Pläne großer multinationaler Bergbauunternehmen verfolgt.

Die langen Linien kolonialer Gewalt

Über die Jahre änderten sich nur die Art der Rohstoffe, für die das Land unterjocht wurde, nicht aber die Brutalität mit der die Bevölkerung zu deren Förderung gezwungen wird. Während der Herrschaft von König Leopold II. (1865–1909) verbreitete seine Söldnertruppe, die Force Publique, Angst und Schrecken von den Großen Bakongo im Westen bis nach Katanga im Südosten. Dörfer wurden geplündert und niedergebrannt und die Menschen mit modernsten Waffen wie dem Maxim-Gewehr niedergemetzelt. Besonders betroffen waren vier große Bevölkerungsgruppen: die Kongo- und Kuba-Bauern im unteren Kongo sowie die Luba- und Lunda-Viehzüchter und Subsistenzbauern im Osten.

Von 1876 bis 1889 versuchten die Belgier, im unteren Kongo eine Kolonie zu gründen, die auf der Gewinnung von Erdnüssen und Palmöl basieren sollte. Von 1891 bis 1895 konkurrierten Elfenbein und Kautschuk um den ersten Platz. Von 1896 bis 1908 verwandelte die Kautschukgewinnung den unteren Kongo und Teile der Kolonie nördlich und östlich des Stanley-Pools (heute Malebo-Pool) in ein Leichenhaus. Auch Verstümmelungen waren weit verbreitet – an nur einem einzigen Tag wurden einem Kolonialkommissar 1.308 abgetrennte Hände vorgelegt.

Von 1906 bis in die 1930er Jahre wurden die Regionen Kasai, Katanga und Ituri zwangsweise in Bergbaukolonien verwandelt. Diese massiven Anstrengungen, Bergbauunternehmen zu etablieren und afrikanische Arbeiter zur Förderung begehrter Bodenschätze wie Kohle, Kobalt, Diamanten, Gold, Eisen, Opale, Mangan, Platin, Zinn und Uran zu zwingen, bildeten das Fundament der kolonialen Ausbeutung im Kongo. Das größte und profitabelste Unternehmen war die Bergbaugesellschaft Haut-Katanga (heute bekannt als Umicore). Das Unternehmen rekrutierte seine Arbeitskräfte aus einem riesigen Pool potenzieller Arbeiter, fürchtete jedoch, dass sich daraus eine organisierte Arbeiterklasse entwickeln könnte, die bessere Löhne und Mitspracherechte fordern würde. Um dies zu verhindern, griff das Unternehmen zu extremer Gewalt – in einem Ausmaß, das an Völkermord grenzte. Doch trotz brutaler Repression konnte es das Entstehen einer afrikanischen Arbeiterklasse nicht vollständig unterbinden.

Monsembula Nzaaba Richard or ‘Monzari’ (DRC), Aurore Africaine (‘African Aurora’), 2024.

Der Kampf des kongolesischen Volkes um Souveränität und Würde

Die deutsche Besetzung Belgiens (1940–1945) erschütterte den Mythos der Unbesiegbarkeit des belgischen Kolonialstaats, der im Volksmund als Bula Matadi („Steinbrecher“) bekannt war. 1941 kam es in den Zinnminen von Kikole (Provinz Katanga) zu Streiks afrikanischer Arbeiter. Sie diskutierten darüber, Jeeps zu beschlagnahmen und sich mit anderen afrikanischen Bewegungen auf dem Kontinent zu verbünden.

Der Streik weitete sich auf ganz Katanga (heute Haut-Katanga) aus. Eine entscheidende Rolle spielte die enge Verbindung der Arbeiter zu ihren Bauernfamilien, die ihren Kampf tatkräftig unterstützten. Diese Welle des Widerstands erreichte 1944 auch das Militär: Soldaten meuterten gegen die Force Publique, wobei sie sich auf die Traditionen des Arbeiter- und Bauernwiderstands stützten. Die Bewegung erstreckte sich von den Fabriken in Elisabethville und Jadotville (heute Lubumbashi und Likasi) im Süden bis zu den Zinnminen im Norden.

Die unerfüllten Forderungen der Arbeiter führten zu einer wachsenden Welle der Unzufriedenheit, die in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs die gesamte kongolesische Bevölkerung erfasste. 1957 verlor der belgische Kolonialstaat zunehmend die Kontrolle über das Land. Der schwindende Einfluss Belgiens – insbesondere auf die städtische Arbeiterklasse – brach sich schließlich in den Massenaufstände vom 4. Januar 1959 Bahn.

Im Dezember 1958 lud Ghanas Premierminister Kwame Nkrumah zur All-African People’s Conference in Accra ein. Führende Vertreter und einflussreiche Aktivisten antikolonialer Bewegungen aus ganz Afrika kamen zusammen, um Strategien zur Vertreibung der Kolonialmächte und zur Vereinigung des Kontinents zu diskutieren.

Die Rückeroberung des Kongo

Am 30. Juni 1960 sah sich die belgische Regierung gezwungen, dem Kongo die Unabhängigkeit zu gewähren. Eine Ausnahme bildete jedoch die Provinz Katanga, die aufgrund ihrer reichen Bodenschätze von besonderem Interesse für Belgien war. Dies geschah durch den Sezessionisten Moïse Tshombe und seinen skrupellosen Innenminister Godefroid Munongo. In Katanga lag die tatsächliche wirtschaftliche und zivile Macht weiterhin bei der Union Minière du Haut-Katanga, die nicht nur die wirtschaftlichen Interessen kontrollierte, sondern deren Sicherheitskräfte auch als Offizierskorps für die Streitkräfte des unabhängigen Staates Katanga fungierten.

Am 17. Januar 1961, weniger als sechs Monate nach seiner Ernennung zum Premierminister der Demokratischen Republik Kongo, wurde Lumumba in Katanga ermordet. Der von ihm initiierte politische Prozess wurde daraufhin demontiert. Die westlichen Mächte, insbesondere die USA, betrachteten die etwa hunderttausend Kongolesen, die in den darauffolgenden Konflikten von 1961 bis 1967 ihr Leben verloren, sowie die blutgetränkte Diktatur der Marionettenregierung von Mobutu Sese Seko (1965–1997) als einen geringen Preis im Kalten Krieg. In diesem geopolitischen Kontext galten die strategischen Rohstoffe des Kongo als entscheidend für die NATO-Mächte, die sich dadurch einen Vorteil gegenüber der Sowjetunion verschafften.

Im letzten Jahrzehnt der Herrschaft Mobutus, einer Zeit, in der die globale Industriearbeiterschaft wuchs, stürzten die militärische Intervention und die politische Expansion der Nachbarländer Ruanda und Uganda die Region der Großen Seen in einen Krieg. Diese Krise beförderte die Plünderung der Ressourcen durch transnationale Unternehmen.

Monsembula Nzaaba Richard or ‘Monzari’ (DRC), Le peuple a gagné (‘The People Have Won’), 2024.

Zwischen multinationaler Plünderung und chinesischen Investitionen

Weniger als ein Jahrzehnt nachdem die kongolesische Regierung 1966 alle Bergbau- und Mineralrechte und 1967 die Union Minière verstaatlicht hatte, gerieten Länder im globalen Süden unter den Druck internationaler Finanzinstitutionen, ihre verstaatlichten Bergbausektoren zu privatisieren. In der Demokratischen Republik Kongo führte der Druck des IWF und der Weltbank in den 1980er Jahren zu ersten Privatisierungen. Doch erst später, mit dem Bergbaugesetz von 2002, begann dieser Trend die Wirtschaft zu zerstören, was vor allem auf die politischen Unruhen und die Kriegszeit zurückzuführen ist, die das Land von 1996 bis 2003 prägten. Die Schwäche des Staates infolge dieses Krieges, die Gleichgültigkeit der neuen politischen Führung in Kinshasa und der Druck der Weltbank veranlassten die Demokratische Republik Kongo, Geschäfte anzubieten, die für multinationale Bergbauunternehmen vorteilhaft waren. Mit dem neuen Bergbaugesetz bot man ausländischen Unternehmen – alle aus den USA und Europa – günstige Steuern, Anreize für die Exploration, eine offene Tür für die Ausfuhr von Gewinnen – und das Recht auf Arbeits- und Umweltvorschriften zu umgehen.

Der Einstieg des chinesischen Staates und privater chinesischer Unternehmen in Afrika in den letzten zwei Jahrzehnten hat zu einem Wettbewerb mit den Ländern des Globalen Nordens und ihren Bergbauunternehmen geführt. Es war das erste Mal, dass diese multinationalen Konzerne in direkten Wettbewerb treten mussten, was der kongolesischen Regierung den Spielraum gab, das Bergbaugesetz im Jahr 2018 zu ändern und der Ausplünderung des Landes, wenngleich gering, entgegenzuwirken.

Am 20. Januar 2024 schloss die Demokratische Republik Kongo einen Vertrag über Mineralien gegen Infrastruktur mit China ab, der eine Finanzierung in Höhe von sieben Milliarden US-Dollar, vor allem für den Bau von Straßen vorsah. Die Vereinbarung basiert auf einem Joint Venture für den Kupfer- und Kobaltabbau zwischen Gécamines (dem staatlichen Bergbauunternehmen der Demokratischen Republik Kongo) und Sicomines. Das Abkommen sicherte der Demokratischen Republik Kongo außerdem einen Anteil von 40 % am Wasserkraftwerk Busanga, einem gemeinsamen Projekt der beiden Länder, das von chinesischen Unternehmen gebaut wurde.

Interessanterweise wuchs im Globalen Norden die Sorge um die Ausbeutung der Arbeiter in der Demokratischen Republik Kongo gerade zu dem Zeitpunkt, als chinesische Firmen begannen, Bergbauunternehmen aus dem Globalen Norden zu verdrängen. Dieses Interesse ignoriert sowohl die schweren Verstöße von Unternehmen aus dem Globalen Norden und gibt vor, sich um das Wohlergehen des kongolesischen Volkes zu sorgen. Als das private chinesische Unternehmen China Molybdenum Company Limited (CMOC), das Mineralien produziert, die für grüne Technologien entscheidend sind, 2016 die Tenke-Fungurume-Mine vom US-amerikanischen Bergbauunternehmen Freeport-McMoRan kaufte, wuchs im US-amerikanischen Staatsapparat die Angst, dass die Chinesen alle Schlüsselelemente der „grünen Technologie“ kontrollieren würden.

Da die USA nicht in der Lage waren, den Kauf durch China anzufechten, gingen sie in zwei Richtungen vor: Sie delegitimierten Chinas Interventionen in Afrika durch Beschwerden über die Ausbeutung von Kinderarbeit durch China und übten politischen Druck auf afrikanische Regierungen aus, die Verbindungen zu China abzubrechen.

Der Kampf des kongolesischen Volkes konzentriert sich heute auf die Errichtung der Souveränität über sein Territorium und die Gewährleistung der Menschenwürde. Dieser Befreiungskampf kann nicht allein auf nationaler Ebene geführt werden, da die Kräfte, die die Kongolesen in Knechtschaft halten, global agieren. In einer Ära des erneuerten Panafrikanismus, der Westafrika verändert, findet Frantz Fanons Mahnung aus Toward the African Revolution, dass „das Schicksal von uns allen im Kongo auf dem Spiel steht“, neue Aktualität.6

M Kadima (DRC), Congo Is Not for Sale, 2024.
Reference photograph by John Behets.

Anmerkungen

  1. Eyamba G. Bokamba und Eyamba D. Bokamba, 2022 Mining Data Study (Kinshasa: Center for Research on the Congo-Kinshasa (CERECK), 2024). ↩︎
  2. Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP), Die Demokratische Republik Kongo. Umweltbewertung nach einem Konflikt. UNEP-Synthese für politische Entscheidungsträger (Nairobi:
    UNEP, 2011), 22. ↩︎
  3. „Democratic Republic of the Congo (COD) Exports, Imports, and Trade Partners“, The Observatory of Economic Complexity, https://oec.world/en/profile/country/cod. ↩︎
  4. The World Bank, „Democratic Republic of Congo Overview“, https://www.worldbank.org/en/country/drc/overview#. ↩︎
  5. „Country Insights – Human Development Index Reports“, Vereinte Nationen, https://hdr.und-p.org/data-center/country-insights. ↩︎
  6. Frantz Fanon, Toward the African Revolution (New York: Grove Press, 1964), 197. ↩︎