Wir wissen, dass aus diesem Chaos eine andere Welt zutage treten wird

Der vierte Newsletter (2024)

Luis Felipe Noé (Argentinien), La naturaleza y los mitos II, 1975.

Liebe Freund*innen,

Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.

«Der Westen ist in Gefahr», warnte Argentiniens neuer Präsident Javier Milei auf dem diesjährigen Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos in der Schweiz. In seinem gefährlich demagogischen Stil machte Milei den «Kollektivismus» – d. h. Sozialhilfe, Steuern und den Staat – als «Hauptursache» für die Probleme der Welt verantwortlich, die zu weit verbreiteter Verarmung führten. Der einzige Weg nach vorne, so Milei, sei «freies Unternehmertum, Kapitalismus und wirtschaftliche Freiheit». Mileis Rede signalisiert eine Rückkehr zur Orthodoxie von Milton Friedman und den «Chicago Boys», die eine Ideologie des sozialen Kannibalismus als Grundlage für ihre neoliberale Agenda propagierten. Seit den 1970er Jahren hat diese Politik der verbrannten Erde einen Großteil des Globalen Südens durch die Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds verwüstet, aber auch Industriewüsten im Westen hervorgebracht (Donald Trump bezeichnete dies in seiner Antrittsrede 2017 als «amerikanisches Gemetzel»). Darin liegt die verwirrende Logik der extremen Rechten: Auf der einen Seite fordern sie, dass die Milliardärsklasse die Gesellschaft in ihrem Interesse dominiert (was das soziale Gemetzel verursacht), und auf der anderen Seite hetzen sie die Opfer dieses Gemetzels auf, gegen eine Politik zu kämpfen, die ihnen zugutekommt.

Dir Grundannahme Mileis stimmt: Der Westen ist in Gefahr, aber nicht wegen der sozialdemokratischen Politik, sondern wegen seiner Unfähigkeit, sich mit seinem langsamen Untergang als dominierender Block in der Welt abzufinden.

Von Tricontinental: Institute for Social Research und Global South Insights (GSI) kommen zwei wichtige Texte über die sich verändernde globale Landschaft: eine wegweisende Studie, Hyper-Imperialism: A Dangerous, Decadent New Stage («Hyperimperialismus: Ein gefährliches, dekadentes neues Stadium») und unser zweiundsiebzigstes Dossier The Churning of the World Order («Das Durchschütteln der globalen Ordnung») (das Dossier ist eine Kurzfassung der Studie, daher beziehe ich mich auf beide Publikationen, als wären sie ein einziger Text). Wir glauben, dass dies die bedeutendste theoretische Darlegung ist, die unser Institut in seiner achtjährigen Geschichte abgegeben hat.

Sowohl in Hyper-Imperialism als auch in The Churning of the World Order arbeiten wir vier wichtige Kernaussagen heraus:

Zunächst zeigen wir durch eine eingehende Analyse der Konzepte des Globalen Nordens und des Globalen Südens, dass ersterer als Block agiert, während letzterer lediglich eine lose Gruppierung ist. Der Globale Norden wird von den Vereinigten Staaten angeführt, die mehrere Instrumente geschaffen haben, um ihre Autorität über die anderen Länder des Blocks (von denen viele historische Kolonialmächte und Siedler-Kolonialgesellschaften sind) auszuweiten. Zu diesen Plattformen gehören das Geheimdienstbündnis Five Eyes (ursprünglich 1941 zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich gegründet, hat sich das Netzwerk inzwischen auf Fourteen Eyes ausgeweitet), die Nordatlantikvertrags-Organisation (NATO, gegründet 1949) und die Gruppe der Sieben (G7, gegründet 1974). Durch diese und andere Zusammenschlüsse sind die Vereinigten Staaten und ihre politischen Verbündeten im Globalen Norden in der Lage, Autorität über ihre eigenen Länder und die Länder des Globalen Südens auszuüben. 

Im Gegensatz dazu sind die Länder des Globalen Südens historisch gesehen viel unorganisierter, mit einigen lockereren Allianzen und Verbindungen im Rahmen regionaler und politischer Zugehörigkeiten. Der Globale Süden hat weder ein politisches Zentrum noch ein ideologisch motiviertes Projekt. 

Die Analyse in den Texten ist detailliert und stützt sich auf öffentliche und vom GSI erstellte Datenbanken. Die Quintessenz ist, dass es ein einziges Weltsystem gibt, das auf gefährliche Weise von einem imperialistischen Block gesteuert wird. Es gibt keinen Mehrfachimperialismus und keinen zwischenimperialistischen Konflikt.

Mahmud al-Obaidi (Irak), Untitled, 2008.

Zweitens üben die Plattformen des Globalen Nordens ihre Macht über das Weltsystem durch eine Reihe von Vektoren (militärische, finanzielle, wirtschaftliche, soziale, kulturelle) und durch eine Reihe von Instrumenten (NATO, Internationaler Währungsfonds, Informationssysteme) aus. Mit dem allmählichen Rückgang der Kontrolle des Globalen Nordens über das internationale Finanzsystem, die Rohstoffe, die Technologie und die Wissenschaft übt dieser Block seine Macht hauptsächlich durch militärische Gewalt und durch die Verwaltung von Informationen aus. In diesen Texten gehen wir nicht auf die Frage der Information ein, obwohl wir bereits früher darüber geschrieben haben und sie in einer Studie über digitale Souveränität wieder aufgreifen werden. Der Schwerpunkt dieser Texte liegt weitgehend auf den Militärausgaben, wobei wir zeigen, dass der von den USA angeführte Block 74,3 % der weltweiten Militärausgaben auf sich vereint und dass die USA pro Kopf der Bevölkerung 12,6 mal mehr als der Weltdurchschnitt ausgeben (Israel, das nach den USA an zweiter Stelle steht, gibt 7,2 mal mehr als der Weltdurchschnitt pro Kopf aus). Zum Vergleich: Auf China entfallen 10 % der weltweiten Militärausgaben, und seine Pro-Kopf-Militärausgaben sind 22-mal geringer als die der Vereinigten Staaten.

Diese enormen Ausgaben für das Militär sind nicht folgenlos. Sie gehen nicht nur auf Kosten der Sozialausgaben, sondern die militärische Macht des Globalen Nordens wird auch eingesetzt, um Länder zu bedrohen, einzuschüchtern und – wenn sie ungehorsam sind – mit Höllenfeuer und Schwefel zu bestrafen. Allein im Jahr 2022 haben diese imperialistischen Nationen 317 mal ihre militärischen Streitkräfte in Länder des Globalen Südens entsandt. Die meisten dieser Einsätze (31) erfolgten in Mali, einem Land, das nach Souveränität strebt und das als erster der Sahel-Staaten einen vom Volk unterstützten Putsch (2020 und 2021) durchführte und das französische Militär aus seinem Gebiet vertrieb (2022).

Zwischen 1776 und 2019 haben die Vereinigten Staaten weltweit mindestens 392 Interventionen durchgeführt, die Hälfte davon zwischen 1950 und 2019. Dazu gehört auch der schreckliche, illegale Krieg gegen den Irak im Jahr 2003 (auf dem diesjährigen WEF-Treffen forderte der irakische Premierminister Mohammed Shia’ al-Sudani die Truppen des Globalen Nordens auf, den Irak zu verlassen). Diese enormen Militärausgaben des Globalen Nordens, angeführt von den Vereinigten Staaten, spiegeln die Militarisierung seiner Außenpolitik wider. Einer der wenig beachteten Aspekte dieser Militarisierung ist die Entwicklung einer Theorie der «Verteidigungsdiplomatie» sowohl in den Vereinigten Staaten als auch im Vereinigten Königreich (wie sie in der Strategic Defence Review des britischen Verteidigungsministeriums von 1998 festgehalten wurde). In den Vereinigten Staaten verwenden strategische Denker*innen das Akronym DIME (Diplomatie, Information, Militär und «Economy» bzw. Wirtschaft), um die Grundlagen nationaler Macht  zu beschreiben.

Letztes Jahr haben sich die Europäische Union und die NATO – die Institutionen im Herzen des Globalen Nordens – gemeinsam verpflichtet, «das gesamte uns zur Verfügung stehende Instrumentarium zu mobilisieren, sei es in politischer, wirtschaftlicher oder militärischer Hinsicht, um unsere gemeinsamen Ziele zum Wohle unserer einer Milliarde Bürger*innen zu verfolgen». Falls ihr es überlesen habt, diese Macht – hauptsächlich militärische Macht und Militärdiplomatie – soll nicht der Menschheit, sondern nur ihren «Bürger*innen» dienen.

António Ole (Angola), The Maculusso Mural, 2014.

Drittens: Teil IV unserer Hyperimperialismus-Studie trägt den Titel «Der Westen im Niedergang» und betrachtet die Belege für diesen Trend aus einer Perspektive, die Mileis «Der Westen ist in Gefahr»-Angstmacherei zurückweist. Die Fakten zeigen, dass der Globale Norden seit dem Beginn der Dritten Weltwirtschaftskrise darum kämpft, seine Kontrolle über die Weltwirtschaft aufrechtzuerhalten; seine Instrumente – Monopole auf Technologie und Rohstoffe sowie die Vorherrschaft über ausländische Direktinvestitionen – sind grundlegend erodiert. Als China 2004 den Anteil der Vereinigten Staaten an der weltweiten Industrieproduktion überholte, verloren die USA ihre Vormachtstellung in der Produktion (2022 lag der Anteil Chinas bei 25,7 % gegenüber 9,7 % bei den USA). Da die Vereinigten Staaten nun von umfangreichen Nettokapitalimporten abhängig sind, die im Jahr 2022 die Summe von 1 Billion US-Dollar erreichen werden, haben die USA kaum interne Möglichkeiten, ihren Verbündeten im Globalen Norden oder im Globalen Süden wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen. Die Kapitaleigner in den Vereinigten Staaten haben ihre Gewinne aus der Staatskasse abgeschöpft und damit die wirtschaftlichen Voraussetzungen für das soziale Gemetzel geschaffen, das das Land heimsucht. Die alten politischen Koalitionen, die sich um die beiden Parteien in den Vereinigten Staaten gebildet haben, sind im Wandel begriffen, und das politische System der USA bietet keinen Raum für die Entstehung eines politischen Projekts, welches Hegemonie über die Weltwirtschaft durch Legitimität und Zustimmung ausüben können würde. Deshalb greift der von den USA geführte Globale Norden zu Gewalt und Einschüchterung und baut seinen massiven Militärapparat aus, indem er seine eigene Staatsverschuldung erhöht (während es im Inland kaum Übereinstimmung dazu gibt, diese Kredite für den Bau von Infrastruktur und der produktiven Basis des Landes zu verwenden).

Die Ursache für den China von den Vereinigten Staaten aufgezwungenen Neuen Kalten Krieg liegt darin, dass China die Vereinigten Staaten bei den Nettoanlageinvestitionen überholt hat, während die USA einen allmählichen Rückgang verzeichneten. Seit 1992 war China jedes Jahr ein Nettokapitalexporteur, und dieser Überschuss an Kapitalbildung hat es ermöglicht, internationale Projekte wie die Neue-Seidenstraße-Initiative zu finanzieren, die jetzt zehn Jahre alt ist.

El Meya (Algerien), Les Moudjahidates, 2021.

Viertens analysieren wir das Entstehen neuer Organisationen, die im Globalen Süden verwurzelt sind, wie die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (2001), die BRICS10 (2009) und die Gruppe der Freunde zur Verteidigung der UN-Charta (2021). Diese interregionalen Plattformen befinden sich noch in einem embryonalen Stadium, aber sie sind ein Beleg für das Wachstum eines neuen Regionalismus und Multilateralismus. Obwohl diese Formationen nicht versuchen, als Block gegen den Block des Globalen Nordens zu agieren, spiegeln sie das wider, was wir zuvor als eine «neue Stimmung» im Globalen Süden bezeichnet haben. Diese neue Stimmung ist weder antiimperialistisch noch antikapitalistisch, sondern wird von vier Hauptvektoren geprägt:

  • Multilateralismus und Regionalismus, die sich auf die Schaffung von im Globalen Süden verankerten Plattformen für die Zusammenarbeit konzentrieren.
  • Neue Modernisierung, die sich auf den Aufbau regionaler und kontinentaler Volkswirtschaften konzentriert, die lokale Währungen anstelle des Dollars für Handel und Reserven verwenden.
  • Souveränität, die Barrieren für westliche Interventionen schaffen würde. Dazu gehören militärische Verstrickungen und digitaler Kolonialismus, die beide die Interventionen der US-Geheimdienste erleichtern.
  • Reparationen, die kollektive Verhandlungen zur Entschädigung für die jahrhundertealten Schuldenfallen des Westens und den Missbrauch des überschüssigen Kohlenstoffbudgets sowie für sein weitreichenderes Erbe des Kolonialismus bedeuten würden.

Die Analyse in diesen Texten geht tief unter die Oberfläche und liefert eine historisch-materialistische Bewertung unserer gegenwärtigen Krisen. Die von den Institutionen des Globalen Nordens erstellten Dokumente, wie der Global Risks-Bericht des WEF für 2024, enthalten eine Liste der Gefahren, denen wir ausgesetzt sind (Klimakatastrophe, soziale Polarisierung, wirtschaftlicher Abschwung), können diese aber nicht erklären. Unser Ansatz, so glauben wir, liefert eine Theorie, um diese Gefahren als Ergebnis des vom hyperimperialistischen Block gesteuerten Weltsystems zu verstehen.

Während ich über diese Texte sinnierte, kam mir das Werk des irakischen Dichters Buland al-Haydari (1926-1996) in den Sinn. Als alles aussichtslos schien, schrieb al-Haydari, dass «die Sonne nicht aufgehen wird» und «am Ende des Hauses die Schritte meiner Kinder, die bereits tot sind, zu Stille werden». Aber selbst dann, als wir «ohne Strom waren», blieb Hoffnung. Seine Zivilisation ertrinkt, aber dann «kamst du mit dem Paddel», singt er. «So ist die Geschichte unseres Gesterns, und ihr Geschmack ist bitter», schließt er, «so ist unser langsamer Gang, die Prozession unserer Würde: unser einziges Gut bis zu der Stunde, in der sich endlich ein freies Paddel erheben wird».

Eine solche Erwartung schwingt auch in einem Klassiker des iranischen Dichters Forough Farrokhzad (1934-1967), «Someone Who Is Not Like Anyone» (1966), mit:

Ich habe geträumt, dass jemand kommt.
Ich habe von einem roten Stern geträumt,
und meine Augenlider zucken ständig
und meine Schuhe stehen ständig stramm
und ich soll erblinden
falls ich lüge.
Ich habe von diesem roten Stern geträumt
nicht während ich schlief.
Jemand wird kommen,
jemand kommt
jemand Besseres.

Herzlichst,

Vijay