Keep On Rockin’ in the Free World

Der einundzwanzigste Newsletter (2024)

Iri and Toshi Maruki, XV Nagasaki, 1982, aus der Serie The Hiroshima Panels.

Liebe Freund*innen,

Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.

Für Prabir, der nicht mehr im Gefängnis ist.

Am Abend des 14. Mai erklomm US-Außenminister Antony Blinken die Bühne des Barman Dictat in Kiew (Ukraine), nahm eine E-Gitarre in die Hand und schloss sich der ukrainischen Punkband 19.99 an. Die Ukrainer*innen, so sagte er, «kämpfen nicht nur für eine freie Ukraine, sondern für eine freie Welt». Danach spielte er den Refrain von Neil Youngs Rockin’ in the Free World von 1989. Blinken und 19.99 ignorierten den eigentlichen Text des Liedes und seine Implikationen völlig. Young und seine Band The Restless waren für einen Auftritt in der UdSSR gebucht worden, als sie erfuhren, dass ihre Tournee ins Wasser fiel. Enttäuscht verfasste Young den Text eines Liedes, das sich auf seine Kritik an den Reagan-Jahren und dem ersten Monat der Präsidentschaft von George H. W. Bush stützte. Donald Trump verwendete den Refrain des Liedes in seiner Präsidentschaftskampagne 2015-16, was Young irritierte. Der Song klingt oberflächlich betrachtet patriotisch, ist aber – wie Bruce Springsteens Born in the USA (1984) – zutiefst kritisch gegenüber den Hierarchien und Erniedrigungen der kapitalistischen Gesellschaft.

Die drei Strophen des Songs von Young zeichnen ein Bild der Verzweiflung – people shufflin’ their feet, people sleepin’ in their shoes – geprägt von der Drogenepidemie unter den hoffnungslosen Armen (eine Frau puts the kid away, and she’s gone to get a hit), dem Zusammenbruch der Bildungschancen (there’s one more kid that’ll never go to school) und der Zunahme der obdachlosen Bevölkerung (we got a thousand points of light for the homeless man). Springsteens Lied wurde im Schatten des US-Krieges gegen Vietnam geschrieben (so they put a rifle in my hand, sent me off to a foreign land, to go and kill the yellow man), fängt aber die erstickende Situation der Arbeiterklasse in den Vereinigten Staaten ein (down in the shadow of the penitentiary, out by the gas fires of the refinery, I’m ten years burning down the road, nowhere to run ain’t got nowhere to go).

Dies sind Lieder des Schmerzes, keine Hymnen des Krieges. Wenn man «born in the USA» oder «keep on rockin’ in the free world» skandiert, ruft das keine Gefühle von Stolz auf den Globalen Norden hervor. Vielmehr ist es eine heftige Kritik: Der Mann in Springsteens Lied kehrt aus einem Krieg zurück, den er nicht wollte, und findet keine Arbeit mehr. Keep on rockin’ in the free world ist von Ironie durchdrungen. Blinken hat das nicht verstanden, Trump auch nicht. Sie wollen den Reiz des Rock’n’Roll, aber nicht die Schärfe der Liedtexte. Was sie nicht verstehen, ist, dass Neil Youngs Song von 1989 der Soundtrack zu den Widerständen gegen die US-Kriege in Panama (1989-1999), Irak (1990-1991), Jugoslawien (1999), Afghanistan (2001-2021), Irak (2003-2011) und vielen weiteren ist.

Iri and Toshi Maruki, XIII Death of the American Prisoners of War, 1971, aus der Serie The Hiroshima Panels.

Blinken reiste nach Kiew, um die Ratifizierung der Vergabe von 95 Milliarden Dollar an die Streitkräfte Israels, Taiwans, der Ukraine und der Vereinigten Staaten zu feiern. Dieses Geld ist zusätzlich zu den über 1,5 Billionen Dollar, die die Vereinigten Staaten jedes Jahr für ihr Militär ausgeben. Es ist obszön, dass die Vereinigten Staaten Israel weiterhin mit tödlicher Munition versorgen – einschließlich der 26,4 Milliarden Dollar, die Israel im Rahmen der neuen Beschlüsse zugesprochen wurden –, mit der es seinen völkermörderischen Krieg gegen die Palästinenser*innen im Gazastreifen fortsetzt,während die USA vorgeben, um das Verhungern und Abschlachten der Palästinenser*innen besorgt zu sein. Es ist grauenhaft, dass die USA weiterhin jegliche Friedensgespräche zwischen Russland und der Ukraine verhindern, und gleichzeitig das demoralisierte Militär des Landes finanziert (in der neuen Gesetzesvorlage sind allein 60,8 Milliarden Dollar für Waffen vorgesehen), da die USA den Konflikt nutzen wollen, um «Russland zu schwächen».

Am anderen Ende Eurasiens haben die Vereinigten Staaten die Taiwan-Frage instrumentalisiert, um China zu Handlungen zu provozieren, die es «schwächen» könnten. Deshalb sind in dem Nachtragshaushalt 8,1 Milliarden Dollar für die «Sicherheit im indopazifischen Raum» vorgesehen, darunter 3,9 Milliarden Dollar für die Aufrüstung Taiwans und 3,3 Milliarden Dollar für den Bau von U-Booten in den Vereinigten Staaten. Taiwan ist nicht der einzige potenzielle Frontstaat in dieser Druckkampagne gegen China: Die neu gebildete Squad-Gruppe, der Australien, Japan, die Philippinen und die Vereinigten Staaten angehören, nutzt eigentlich lösbare Konflikte zwischen den Philippinen und China als Anlässe für gefährliche Manöver, um eine chinesische Reaktion zu provozieren, die zu Angriffen der USA auf China führen würde.

Iri and Toshi Maruki, XIV Crows, 1972, aus der Serie The Hiroshima Panels.

In Zusammenarbeit mit dem International Strategy Centre (Seoul, Südkorea) und No Cold War haben wir ein fabelhaftes neues Dossier mit dem Titel The New Cold War is Sending Tremors Throughough Northeast Asia («Der Neue Kalte Krieg sendet Schockwellen durch Nordostasien», Mai 2024) veröffentlicht. Die Kernaussage des Dossiers ist, dass «der von den USA angeführte Neue Kalte Krieg gegen China Nordostasien entlang der historischen Bruchlinien der Region destabilisiert, als Teil einer breiteren Militarisierungskampagne, die sich von Japan und Südkorea über die Taiwanstraße und die Philippinen bis nach Australien und die Pazifischen Inseln erstreckt».

Das «Feindbild» für diese Aufrüstung im so genannten «Indopazifik» (ein Begriff, der entwickelt wurde, um Indien in dieses Bündnis zur Einkreisung Chinas zu ziehen) ist Nordkorea, dessen Nuklear- und Raketenprogramme als Anlass für diese asymmetrische Mobilisierung entlang des pazifischen Randes Asiens genutzt werden; um einen Vergleich zur Verdeutlichung der Asymmetrie anzuführen: der Militärhaushalt Südkoreas im Jahr 2023 (47,9 Milliarden Dollar) ist mehr als doppelt so hoch wie das BIP Nordkoreas im selben Jahr (20,5 Milliarden Dollar). Dieser strategische Gebrauch von Nordkorea, so das Dossier, «war schon immer ein Feigenblatt für die Eindämmungsstrategien der USA – zuerst gegen die Sowjetunion und heute gegen China». (Hier gibt es das Dossier auch auf Koreanisch zu lesen).

Iri and Toshi Maruki, XII Floating Lanterns, 1968, aus der Serie The Hiroshima Panels.

In den ersten Jahren des Aufbaus der «Indo-Pazifik-Strategie» durch die USA argumentierten chinesische Wissenschaftler*innen wie Hu Bo, Jimin Chen und Feng Zhennan, dass der Begriff lediglich ein Konzept sei und dass es zu viele Widersprüche zwischen den Ländern gebe, die an der Entwicklung der Strategie zur Eindämmung Chinas beteiligt seien. In den letzten Jahren hat sich jedoch eine neue Sichtweise herausgebildet, dass diese neuen Bewegungen im Pazifik eine ernsthafte Bedrohung für China darstellen und dass China mit Schonungslosigkeit reagieren müsse, um jegliche Provokation zu vermeiden.

Es ist diese Situation, bestimmt von der Schaffung neuer Bündnisse durch die Vereinigten Staaten (Quad, AUKUS, JAKUS, Squad), die China bedrohen sollen, und der Weigerung Chinas, sich dem Hyperimperialismus des globalen Nordens zu beugen – die eine ernsthafte Bedrohung für Asien darstellt.

Der letzte Abschnitt des Dossiers – Ein Weg zum Frieden in Nordostasien – gibtEinblick in die Hoffnungen der Volksbewegungen in Okinawa, auf der koreanischen Halbinsel und in China, einen Weg zum Frieden zu finden. Fünf einfache Prinzipien sind die Leitplanken dieses Wegs: Die Beendigung der gefährlichen Allianzen, die Beendigung der von den USA geführten Kriegsspiele in der Region, die Beendigung der US-Intervention in der Region, die gegenseitige Unterstützung der Kämpfe in der gesamten Region und die Unterstützung der Kämpfe an vorderster Front zur Beendigung des Militarismus in Asien (wie die Kämpfe derjenigen, die in der Nähe des Luftwaffenstützpunkts Kadena und der Henoko-Bucht in Okinawa und der Terminal High Altitude Area Defence-Anlage in Soseong-ri und der Jeju-Marinebasis in Südkorea leben).

Iri and Toshi Maruki, X Petition, 1955, aus der Serie The Hiroshima Panels.

Vor einigen Jahren besuchte ich die Maruki-Galerie in der Nähe der Stadt Higashi-Matsuyama in Saitama. Dort sah ich die bemerkenswerten Wandgemälde von Ira Maruki (1901-1995) und Toshi Maruki (1912-2000) über die schreckliche Gewalt der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki durch die Regierung der Vereinigten Staaten. Diese Wandgemälde im traditionellen japanischen Tuschestil (sumi-e) zeigen den immensen menschlichen Tribut, den die Hässlichkeit der modernen Kriegsführung fordert. Dank der Chefkuratorin Yukinori Okamura und der internationalen Koordinatorin Yumi Iwasaki konnten wir Elemente der Wandgemälde in unserem Dossier und in diesem Rundbrief verwenden.

1980 verhaftete die südkoreanische Militärdiktatur Kim Nam-ju (1945-1994) und fünfunddreißig weitere Linke Aktivist*innen mit der Begründung, sie seien in der Nationalen Befreiungsfront aktiv. Kim war ein Dichter und Übersetzer, der Fanons Schwarze Haut, weiße Maske und Ho Chi Minhs Schriften ins Koreanische gebracht hatte. Während seiner achtjährigen Haftzeit im Gefängnis von Gwangju schrieb Kim eine Reihe eindringlicher Gedichte, die er zur Veröffentlichung herausschmuggeln konnte. Eines dieser Gedichte, Things have really changed,  handelt von der Erstickung der Ambitionen des koreanischen Volkes auf seiner eigenen Halbinsel.

Wenn die Menschen von Joseon unter dem japanischen Imperialismus
«Es lebe die Unabhängigkeit!» riefen
kamen japanische Polizisten und nahmen sie mit,
japanische Staatsanwälte verhörten sie,
japanische Richter stellten sie vor Gericht.

Japan zog sich zurück und die USA trat hervor
Wenn die Koreaner jetzt
«Yankee Go Home» sagen
kommt die koreanische Polizei und nimmt sie mit,
koreanische Staatsanwälte verhören sie,
koreanische Richter stellen sie vor Gericht.

Die Dinge haben sich nach der Befreiung wirklich geändert.
Weil ich «Vertreibt die ausländischen Invasoren!» rief
waren Leute aus meinem eigenen Land diejenigen,
die mich verhafteten, verhörten  und vor Gericht stellten.

Herzlichst, 
Vijay