Geht die Herrschaft des Dollars zu Ende?

Der fünfundzwanzigste Newsletter (2024)

Jiang Tiefeng (China), Stone Forest, 1979.

Liebe Freund*innen,

Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.

Anfang Juni kursierte das Gerücht – das in der indischen Presse weitgehend als wahr dargestellt wurde –, dass die Regierung Saudi-Arabiens das Petrodollar-Abkommen mit den Vereinigten Staaten auslaufen ließe. Dieses 1974 geschlossene Abkommen ist recht unkompliziert und erfüllt verschiedene Bedürfnisse der US-Regierung: Die USA kaufen Öl von Saudi-Arabien, und Saudi-Arabien verwendet dieses Geld, um militärische Ausrüstung von US-Waffenherstellern zu kaufen, während es die Einnahmen aus den Ölverkäufen in US-Schatzbriefen und im westlichen Finanzsystem hält. Diese Vereinbarung zur Rückführung von Ölgewinnen in die US-Wirtschaft und die westliche Bankenwelt ist als Petrodollar-System bekannt.

Diese nicht-exklusive Vereinbarung zwischen den beiden Ländern hat die Saudis nie dazu verpflichtet, ihre Ölverkäufe auf Dollar zu beschränken oder ihre Öleinnahmen ausschließlich in US-Schatzanweisungen (von denen sie beachtliche 135,9 Milliarden Dollar halten) und in westliche Banken zu investieren. Tatsächlich steht es den Saudis frei, Öl in verschiedenen Währungen wie dem Euro zu verkaufen und sich an digitalen Währungsplattformen wie mBridge zu beteiligen, einer Versuchsinitiative der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich und der Zentralbanken Chinas, Thailands und der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). 

Nichtsdestotrotz spiegelt das Gerücht, dass dieses jahrzehntelange Petrodollar-Abkommen zu Ende sei, die weit verbreitete Erwartung wider, dass ein seismischer Wandel im Finanzsystem die Herrschaft des Dollar-Wall-Street-Regimes stürzen wird. Es war nur ein Gerücht, aber es enthielt eine Wahrheit über die Möglichkeiten einer Welt nach dem Dollar oder einer entdollarisierten Welt.

Xu Lei (China), Map of the Mountains and the Sea, 2003.

Die Einladung an sechs Länder, im vergangenen August dem BRICS-Block beizutreten, war ein weiteres Anzeichen dafür, dass ein solcher Wandel im Gange ist. Zu diesen Ländern gehören der Iran, Saudi-Arabien und die VAE, obwohl Saudi-Arabien seine Mitgliedschaft noch nicht endgültig beschlossen hat. Mit der erweiterten Mitgliedschaft würden die beiden Länder mit den größten und zweitgrößten Gasreserven der Welt (Russland bzw. Iran) und die beiden Länder, auf die fast ein Viertel der weltweiten Ölproduktion entfällt (Russland und Saudi-Arabien, basierend auf den Zahlen von 2022), zu den BRICS gehören. Die von Peking im März 2023 vermittelte politische Öffnung zwischen Iran und Saudi-Arabien sowie die Anzeichen dafür, dass die mit den USA verbündeten VAE und Saudi-Arabien versuchen, ihre politischen Verbindungen zu diversifizieren, zeigen das mögliche Ende des Petrodollar-Systems. Das war der Kern des Gerüchts von Anfang Juni.

Diese Möglichkeit sollte jedoch nicht überbewertet werden, da das Dollar-Wall-Street-Regime nach wie vor intakt und sehr mächtig ist. Aus den Daten des Internationalen Währungsfonds geht hervor, dass der US-Dollar im letzten Quartal 2023 58,41 % der zugewiesenen Währungsreserven ausmachte, was weit mehr ist als die in Euro (19,98 %), japanischem Yen (5,7 %), britischem Pfund (4,8 %) und chinesischem Renminbi (knapp 3 %) gehaltenen Reserven. Unterdessen bleibt der US-Dollar die wichtigste Fakturierungswährung im Welthandel: 40 % der internationalen Warentransaktionen werden in US-Dollar fakturiert, obwohl der Anteil der USA am Welthandel nur 10 % beträgt. Der US-Dollar ist zwar nach wie vor die Leitwährung, steht jedoch weltweit vor Herausforderungen, da der Anteil des US-Dollars an den zugewiesenen Währungsreserven in den letzten zwanzig Jahren allmählich, aber stetig abgenommen hat.

Drei Faktoren treiben die Entdollarisierung voran: die mangelnde Stärke und das fehlende Potenzial der US-Wirtschaft, die mit der dritten großen Depression im Jahr 2008 begann; die aggressive Anwendung illegaler Sanktionen – insbesondere Finanzsanktionen – durch die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten im Globalen Norden gegen ein Viertel der Länder der Welt; und die Entwicklung und Stärkung der Beziehungen zwischen Ländern des Globalen Südens, insbesondere durch Plattformen wie BRICS. Im Jahr 2015 gründeten die BRICS die Neue Entwicklungsbank (New Development Bank, kurz NDB), auch als BRICS-Bank bekannt, um ein Post-Dollar-Wall-Street-Regime zu steuern und Fazilitäten zur Förderung der Entwicklung statt der Austerität zu schaffen. Die Gründung dieser BRICS-Institutionen und die zunehmende Verwendung lokaler Währungen zur Bezahlung des grenzüberschreitenden Handels schufen die Erwartung einer beschleunigten Entdollarisierung. Auf dem BRICS-Gipfel 2023 in Johannesburg wiederholte der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva die Forderung, die Verwendung lokaler Währungen zu verstärken und möglichst ein BRICS-Währungssystem zu schaffen.

Unter denjenigen, die in den BRICS-Institutionen und in den großen Ländern, die an einer Entdollarisierung interessiert sind, wie z. B. China, gearbeitet haben, ist eine lebhafte Debatte über die Notwendigkeit, die Aussichten und die Schwierigkeiten bei der Suche nach neuen Wegen zur Haltung von Währungsreserven und zur Abrechnung des Welthandels entbrannt. Die jüngste Ausgabe der internationalen Zeitschrift Wenhua Zongheng (文化纵横), einer Zusammenarbeit zwischen Tricontinental: Institute for Social Research und Dongsheng, ist diesem Thema gewidmet. In der Einleitung zu «The BRICS and De-Dollarisation: Opportunities and Challenges» (Band 2, Ausgabe Nr. 1, Mai 2024) fasst Paulo Nogueira Batista Jr., der erste Vizepräsident der NDB (2015-2017), seine umfangreichen Überlegungen zur Bedeutung der Abkehr vom Dollar-Wall-Street-Regime und zu den politischen und technischen Schwierigkeiten eines solchen Übergangs zusammen. Die BRICS sind, wie er richtig feststellt, eine vielfältige Gruppe von Ländern mit sehr unterschiedlichen politischen Kräften, die in den einzelnen Staaten das Sagen haben. Die politischen Agenden der Mitglieder sind – trotz der neuen Stimmung im Globalen Süden –j besonders unterschiedlich, wenn es um die Wirtschaftstheorie geht, wobei viele der BRICS-Staaten neoliberalen Formeln verpflichtet bleiben, während andere nach neuen Entwicklungsmodellen suchen. Einer der wichtigsten Punkte, die Nogueira anspricht, ist, dass die Vereinigten Staaten «aller Wahrscheinlichkeit nach alle ihnen zur Verfügung stehenden Instrumente einsetzen werden, um gegen jeden Versuch anzukämpfen, den Dollar von seinem Status als Dreh- und Angelpunkt des internationalen Währungssystems zu entthronen». Zu diesen Instrumenten würden Sanktionen und diplomatische Drohungen gehören, die allesamt das Vertrauen von Regierungen erschüttern würden, die sich politisch weniger stark engagieren und nicht von Volksbewegungen unterstützt werden, die sich für eine neue Weltordnung einsetzen.

Hung Liu (China), Sisters, 2000.

Die Entwertung des Dollars vollzog sich sehr langsam bis 2022, als die Länder des globalen Nordens begannen, russische Guthaben im Dollar-Wall-Street-Finanzsystem zu konfiszieren, und sich in vielen Ländern die Sorge um die Sicherheit ihrer Guthaben in den nordamerikanischen und europäischen Banken breit machte. Obwohl diese Konfiszierung nicht neu war (die Vereinigten Staaten haben dies beispielsweise schon bei Kuba und Afghanistan getan), wirkten Umfang und Schwere dieser Konfiszierungen wie eine «vertrauenszerstörende» Maßnahme, wie Nogueira es ausdrückt.

Auf Nogueiras Einleitung folgen drei Aufsätze führender chinesischer Analyst*innen zu den gegenwärtigen Verschiebungen in der Weltordnung. In «What Is Driving the BRICS’ Debate on De-Dollarisation?» («Was treibt die BRICS-Debatte über die Entdollarisierung an?») stellt Professor Ding Yifan (Senior Fellow am Taihe-Institut in Peking) die Gründe dar, warum viele Länder des Globalen Südens nun versuchen, in lokalen Währungen zu handeln und ihre Abhängigkeit vom Dollar-Wall-Street-Regime zu überwinden. Er hebt zwei Faktoren hervor, die in Frage stellen, ob der Dollar weiterhin als Ankerwährung dienen kann: erstens die Schwäche der US-Wirtschaft aufgrund ihrer Abhängigkeit von Militärausgaben gegenüber produktiven Investitionen (wobei erstere 53,6 % der gesamten weltweiten Militärausgaben ausmachen) und zweitens die Geschichte des Vertragsbruchs der USA. Am Ende seines Artikels denkt Ding über die Möglichkeit nach, dass die Länder des Globalen Südens den chinesischen Renminbi (RMB) als ihre Referenzwährung akzeptieren, da Chinas Produktionskapazitäten den RMB als Mittel zum Kauf chinesischer Waren wertvoll machen.

Doch in seinem Aufsatz «China’s Foreign Exchange Reserves: China’s Foreign Exchange Reserves: Past and Present Security Challenges» («Chinas Devisenreserven:  Sicherheitsherausforderungen Gestern und Heute» äußert sich Professor Yu Yongding (Mitglied der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften) zurückhaltend über die Möglichkeit, dass der RMB den Dollar verdrängen könnte. Damit der RMB zu einer internationalen Reservewährung werden kann, so Yu, «muss China eine Reihe von Voraussetzungen erfüllen, darunter die Schaffung eines soliden Kapitalmarktes (insbesondere eines tiefen und hochliquiden Marktes für Staatsanleihen), ein flexibles Wechselkurssystem, freie grenzüberschreitende Kapitalströme und langfristige Kredite auf dem Markt». Dies würde bedeuten, dass China seine Kapitalverkehrskontrollen aufgeben und beginnen müsste, RMB-Schatzanleihen für internationale Käufer*innen anzubieten. Die Internationalisierung des RMB, so Yu, «ist ein erstrebenswertes Ziel», aber sie kann nicht kurzfristig erfolgen. «Fernes Wasser» schreibt er poetisch, «wird den unmittelbaren Durst nicht stillen».

Xu De Qi (China), China Flower, 2007.

Wie geht es also weiter? In seinem Artikel «From De-Risking to De-Dollarisation: The BRICS Currency and the Future of the International Financial Order» («Von der Risikominderung zur Entdollarisierung: Die BRICS-Währung und die Zukunft der internationalen Finanzordnung») stimmt Professor Gao Bai, der an der Duke University in den Vereinigten Staaten lehrt, zu, dass es dringend notwendig ist, das Dollar-Wall-Street-Regime zu überwinden, und dass es derzeit keinen einfachen Weg nach vorn gibt. Die Verwendung lokaler Währungen ist heute verbreiteter – etwa zwischen Russland und China sowie zwischen Russland und Indien –, aber solche bilateralen Vereinbarungen sind unzureichend. Wie ein aktueller Bericht des World Gold Council zeigt, kaufen Zentralbanken in aller Welt zunehmend Gold für ihre Reserven auf und treiben damit den Goldpreis in die Höhe (der Spotpreis für Gold liegt bei über 2.300 US-Dollar pro Unze und damit weit über dem Preis von 1.200 US-Dollar pro Unze, auf dem er sich 2015 bewegte). Wenn keine unmittelbare Währung zur Verfügung steht, um den US-Dollar zu ersetzen, so Gao, sollten die Länder des Globalen Südens einen «Referenzwert für Abrechnungen in ihren lokalen Währungen und eine Austauschplattform zur Unterstützung solcher Abrechnungen einrichten. Die große Nachfrage nach einer solchen Bewertung bietet die Möglichkeit zur Schaffung einer BRICS-Währung».

Die neue Ausgabe von Wenhua Zongheng liefert eine klare und durchdachte Einschätzung der Probleme mit dem Dollar-Wall-Street-System und der Notwendigkeit einer Alternative. Das breite Spektrum an Ideen, die auf dem Tisch liegen, spiegelt die Vielfalt der Diskussionen wider, die in politischen Kreisen auf der ganzen Welt stattfinden. Wir sind bestrebt, diese Ideen zusammenzufassen und auf ihre technische Machbarkeit und ihre politische Durchführbarkeit zu prüfen.

Es ist wichtig zu erwähnen, dass zwei der BRICS-Länder in diesem Jahr neue Regierungen gewählt haben. In Indien kehrt die rechtsextreme Regierung von Premierminister Narendra Modi an die Macht zurück, allerdings mit einem stark reduzierten Mandat. Da die Modi-Regierung eine Politik des «nationalen Interesses» verfolgt, ist es wahrscheinlich, dass sie weiterhin eine Rolle im BRICS-Prozess spielen und lokale Währungen für den Kauf von Waren wie russischem Öl verwenden wird. Unterdessen hat sich Südafrikas regierende Allianz unter Führung des Afrikanischen Nationalkongresses (African National Congress, kurz ANC) mit der rechtsgerichteten Demokratischen Allianz verbündet, die sich dem US-Imperialismus verschrieben hat und der BRICS-Agenda nicht zugeneigt ist. Mit dem wahrscheinlichen Beitritt Nigerias zum BRICS-Block könnte sich der Schwerpunkt der BRICS auf dem afrikanischen Kontinent nach Norden verlagern.

Während der harten Jahre des Kampfes gegen die Apartheidregierung in Südafrika begann das ANC-Mitglied Lindiwe Mabuza (bekannt als Sono Molefe), Gedichte zu sammeln, die von Frauen in den ANC-Lagern geschrieben wurden. Guerillakämpferinnen, Lehrerinnen, Krankenschwestern und andere schickten Gedichte ein, die sie in einem Band mit dem Titel Malibongwe («Sei gepriesen») veröffentlichte, der sich auf den Frauenmarsch von 1956 in Pretoria bezog. In ihrem einleitenden Essay schrieb Mabuza (1938-2021), dass es im Kampf «keine Romantik» gebe, sondern «nur die hämmernde Realität». Über diesen Ausdruck, «die hämmernde Realität», sollten wir heute nachdenken. Von nichts kommt nichts. Man muss auf die Realität einwirken, um etwas zu ändern, sei es eine neue politische Öffnung in Ländern wie Indien und Südafrika oder eine neue Finanzarchitektur jenseits des Dollar-Wall-Street-Regimes.

Herzlichst,
Vijay