Ein Spaziergang entlang des Baiyangdian-Sees in der Xiong’an New Area

Der vierzigste Newsletter (2024)

Ye Wulin (China), 红星颂 (Ode an den Roten Stern, Detail), 2015.

Liebe Freund*innen,

Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.

Vor fünfundsiebzig Jahren, am 1. Oktober 1949, verkündete Mao Zedong (1893-1976) die Gründung der Volksrepublik China (VRC). Es ist wichtig zu wissen, dass die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) den neuen Staat nicht Sozialistische Republik nannte, sondern Volksrepublik. Das liegt daran, dass Mao und die KPCh nicht davon ausgingen, dass China sofort in den Sozialismus eintreten würde; vielmehr befand sich das Land auf dem Weg zum Sozialismus, ein Prozess, der wahrscheinlich Jahrzehnte, wenn nicht gar ein Jahrhundert dauern würde. Das war den Menschen, die mit der Gestaltung des neuen Staates und der neuen Gesellschaft begannen, sehr klar. Die Volksrepublik musste aus der Glut eines langen Krieges heraus aufgebaut werden, eines Krieges, der mit dem Einmarsch Japans in Nordchina im Jahr 1931 begonnen hatte, 14 Jahre dauerte und über 35 Millionen Menschen das Leben kostete. «Von nun an wird unsere Nation der Gemeinschaft der friedliebenden und freiheitsliebenden Nationen der Welt angehören», sagte Mao auf der ersten Plenartagung der Politischen Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes am 21. September 1949. Das neue China, so fuhr er fort, werde «mutig und fleißig daran arbeiten, seine eigene Zivilisation und sein Wohlergehen zu fördern und gleichzeitig Frieden und Freiheit in der Welt zu unterstützen. Unser Land wird nicht länger eine Nation sein, die beleidigt und gedemütigt wird. Wir sind aufgestanden».

Maos Worte spiegeln die Gefühle der antikolonialen Bewegungen in der ganzen Welt wider, einschließlich derjenigen von Anführer*innen nicht-sozialistischer Bewegungen wie Jawaharlal Nehru aus Indien und Gamal Abdel Nasser aus Ägypten. Für sie erforderte der Dekolonialisierungsprozess Weltfrieden und Gleichheit, damit die ehemals kolonisierten Völker der Welt aufstehen und sich ein Leben in Würde aufbauen konnten. Wenn wir diese Worte im Jahr 2024 lesen und darüber nachdenken, können wir sowohl die Fortschritte erkennen, die die Völker der Welt seit 1949 gemacht haben, als auch die Hartnäckigkeit der alten Kolonialmächte, die lange versucht haben, den Aufbau dieser neuen Welt zu verhindern. Der andauernde US-israelische Völkermord an den Palästinenser*innen und die Bombardierung des Libanon spiegeln die Grausamkeit wider, zu der die Kolonialmächte bereit sind, wenn sie uns in dieser Vergangenheit festzuhalten versuchen, die wir überwinden wollen. Die von den alten Kolonialmächten aufgezwungenen Haltungen und Kriege lenken uns davon ab, unsere «eigene Zivilisation und unser Wohlergehen» aufzubauen und «Weltfrieden und Freiheit» zu fördern. Maos Worte, die in Wirklichkeit die Worte aller aus dem Kolonialismus aufgestiegenen Menschen sind, stellen die Welt vor die Wahl: Entweder leben wir als Feinde und stecken unsere Ressourcen in hässliche und sinnlose Kriege, oder wir bauen eine «Gemeinschaft friedliebender und freiheitsliebender Nationen der Welt» auf.

Ye Wulin (China), 红星颂 (Ode an den Roten Stern, Detail), 2015.

Die durchschnittliche Lebenserwartung in der VR China beträgt 77 Jahre, liegt vier Jahre über dem weltweiten Durchschnitt und hat sich seit 1949, als sie bei nur 36 Jahren lag, deutlich verbessert. Dies ist einer von vielen Indikatoren für eine Gesellschaft, die das Wohl der Menschen und des Planeten in den Vordergrund stellt. Ein weiterer Indikator wurde mir vor einigen Jahren von einem chinesischen Beamten erläutert, der mir von den Plänen seines Landes erzählte, bald eine Wirtschaft ohne fossile Brennstoffe zu schaffen. Das Wort «bald» interessierte mich. Ich fragte ihn, wie es möglich sei, etwas derartiges so schnell zu erreichen. Er begann mir von der Bedeutung der Planung und der Bereitstellung von Ressourcen zu erzählen, aber als er merkte, dass ich ihn nicht nach der Strategie für diese neue Wirtschaft, sondern nach dem Zeitrahmen fragte, sagte er, dass dies «innerhalb des nächsten halben Jahrhunderts, vielleicht, wenn wir hart arbeiten, bis [2049] zum hundertsten Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China» möglich sei. Das Vertrauen in die VR China ermöglicht diese Art der langfristigen Planung und nicht die kurzfristigen Zwänge, die Staaten durch die Logik des Kapitalismus auferlegt werden. Diese langfristige Einstellung durchdringt die chinesische Gesellschaft, und sie verschafft der KPCh den Vorteil, Ressourcen zu nutzen und Jahrzehnte in die Zukunft zu planen, anstatt nur Monate oder Jahre.

Es war diese Denkweise, der auch die Stadtverwalter*innen von Peking vor mehr als zwanzig Jahren folgten, als der rasante Anstieg von Autos in der Hauptstadt und die Verbrennung von Kohle zur Wärmeerzeugung die Bevölkerung in giftigen Smog hüllte. Die nationalen Fünfjahrespläne für 2001-2005 und 2011-2015 sowie Pekings eigener Fünfjahresaktionsplan für saubere Luft (2013-2017) stellten klar, dass das Wirtschaftswachstum die Umwelt nicht ignorieren durfte. Die Stadtverwaltung begann, ihre Planung auf öffentliche Verkehrsmittel und Transitkorridore auszurichten, die auf einer älteren chinesischen Stadtplanung beruhen, bei der Geschäfte und Wohngebäude so gebaut wurden, dass man lieber zu Fuß geht als mit dem Auto fährt. Im September 2017 richtete die Stadt Umweltzonen ein, um umweltschädliche Fahrzeuge von der Einfahrt nach Peking abzuhalten, und schuf Anreize für die Nutzung von Fahrzeugen, die mit elektrischer Energie betrieben werden. China besitzt 99 Prozent der weltweit 385.000 Elektrobusse, von denen 6.584 auf Pekings Straßen unterwegs sind. Obwohl es noch ein weiter Weg ist, bis Pekings Luft den selbst festgelegten Standards entspricht, hat die Toxizität der Luft merklich abgenommen.

Fan Wennan (China), 嫦娥同志 (Genosse Cháng’é), 2022.

In seiner Gründungsrede von 1949 erklärte Mao, dass eines der Ziele der VR China die Förderung des Wohlergehens des Volkes sei. Wie ist das möglich in einem neokolonialen Weltsystem, das die Abhängigkeit der ärmeren Nationen von den ehemaligen Kolonialmächten verstärkt? In der globalen Produktionskette produzieren die ärmeren Länder Waren zu niedrigeren Kosten, wobei die Löhne und der Verbrauch unterdrückt werden, was es multinationalen Unternehmen (MNU) ermöglicht, Waren zu höheren Preisen in der ganzen Welt zu verkaufen und größere Gewinne zu erzielen. Diese großen Gewinne werden dann von den multinationalen Konzernen in die Entwicklung neuer Technologien und Produktivkräfte investiert, die die permanente Unterordnung der ärmeren Länder verstärken. Wenn ein armes Land, um höhere Gewinne zu erzielen, mehr Waren exportiert, begibt es sich in Wirklichkeit in eine immer tiefere Spirale von niedrigeren Lebensstandards für seine ausgebeuteten Arbeiter*innen und in eine Schuldenfalle, aus der es einfach nicht mehr herauskommt. Es ist eine Sache, planen zu können, aber wie kommt man zu den Mitteln, um einen Plan auszuführen?

Am Tricontinental: Institute for Social Research haben wir uns die Erfahrungen Chinas und anderer Länder des Globalen Südens, die aus diesem Käfig der Abhängigkeit ausbrechen wollen, genau angesehen. Wie Tings Chak und ich in einem Artikel zum 75. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China zeigen, hat China in den ersten Jahrzehnten des Bestehens der Volksrepublik alles aufgeboten, was dem Land an minimalen Ressourcen zur Verfügung stand, einschließlich der Unterstützung durch die Sowjetunion, um ein neues Agrarsystem gegen das Großgrundbesitzertum aufzubauen, ein Bildungs- und Gesundheitssystem zu schaffen, das die Lebensqualität der Bevölkerung verbessert, und die elenden Hierarchien der Vergangenheit zu bekämpfen. Diese erste Phase, die von 1949 bis in die späten 1970er Jahre dauerte, hat China eine Kultur beschert, die weitaus egalitärer ist, und eine Bevölkerung, die weitaus gebildeter und gesünder ist als die in anderen postkolonialen Staaten. Das Engagement der KPCh, das Leben der Menschen zu verändern, hat die Möglichkeiten dafür geschaffen. In der zweiten Phase, von 1978 bis heute, hat China seine große Erwerbsbevölkerung genutzt, um ausländische Investitionen und Technologie anzuziehen, aber auf eine Weise, die sicherstellt, dass Wissenschaft und Technologie nach China transferiert werden und dass die staatliche Kontrolle über die Wechselkurse es der KPCh ermöglicht, die Löhne zu erhöhen (die durch das Arbeitsvertragsgesetz von 2008 verbessert wurden), die Falle des mittleren Einkommens zu vermeiden, die technologischen Fähigkeiten zu verbessern und die staatlichen Unternehmen zu befähigen, Hightech-Produktionssysteme zu entwickeln. Dies erklärt in hohem Maße das rasche Wachstum, das China in den letzten Jahrzehnten erlebt hat, wie auch seine Fähigkeit, das Wohlergehen seiner Bevölkerung und seiner Umwelt innerhalb der Gesamtstruktur des neokolonialen Weltsystems zu verbessern.

Fan Wennan (China), 中国2098: 欢迎回家 (China 2098: Welcome Home), 2019-2022.

Im April 2017 wurde die Xiong’an New Area (etwa 100 Kilometer südlich von Peking) offiziell gegründet, um fünf Millionen Einwohner*innen unterzubringen und so die sich abzeichnende Überlastung Pekings zu lindern, dessen wachsende Bevölkerung von 22 Millionen Menschen mit ernsthaften Platzproblemen zu kämpfen hat. Dies geschieht beispielsweise durch die Verlegung vieler nichtstaatlicher Einrichtungen, die sich derzeit in der Hauptstadt befinden (darunter Forschungs-, Hochschul-, Medizin- und Finanzeinrichtungen). Eine der entscheidenden Motivationen für den Bau des neuen Xiong’an-Gebiets war es, die Probleme der dicht besiedelten Hauptstadt zu lösen, ohne sich auf eine städtische Neuplanung einzulassen, die den Charakter dieser Stadt, die 1045 v. Chr. entstand, zerstören würde.

Um die Vorteile der neuen Stadt zu nutzen, setzten sich die Behörden der VR China das Ziel, die Emissionen in der Xiong’an New Area auf Null zu reduzieren, wobei die Landschaft durch die blaugrünen Farben des Wassers und der Vegetation und nicht durch den grauen Smog eines Betondschungels geprägt sein sollte. Die erste Priorität bei der Planung der Stadt war die Wiederherstellung des Baiyangdian, des größten Feuchtgebiets in Nordchina. Seine Wasserfläche, die als «Niere Nordchinas» bekannt ist, wurde von 170 Quadratkilometer auf 290 Quadratkilometer vergrößert, seine Wasserqualität wurde von Klasse V (unbrauchbar) auf Klasse III (trinkbar) verbessert, und die vom Aussterben bedrohte Tauchente Baer’s Pochard wurde in dem Gebiet angesiedelt und gedeiht nun auf dem See. Der Baiyangdian verankert die Stadt.

Die Xiong’an New Area wird als «Drei-Städte-Stadt» gebaut: eine oberirdische Stadt, eine unterirdische Stadt mit Handelszentren, Verkehrsmitteln und Rohrleitungen (für Glasfaserkabel, Strom, Gas, Wasser und Abwasser) sowie eine Cloud-basierte Stadt, die Daten für den intelligenten Verkehr, die digitale Verwaltung, die Inspektion intelligenter Geräte, die Überwachung älterer Menschen und für Notfalldienste bereitstellen wird. Wie die Nationale Entwicklungs- und Reformkommission der Provinz Hebei in ihrem Bericht vom Januar beschreibt, wird in der Xiong’an New Area:

ein urbaner ökologischer Raum geschaffen, in dem Stadt und See koexistieren, in dem Stadt und Grünanlagen integriert sind und in dem Wälder und Wasser voneinander abhängen. … Die Integration von Grünanlagen, Parks und Freiflächen wird vorangetrieben, um eine Stadt der Parks und Städte in Parks zu schaffen, wo Menschen leben und die Natur genießen können.

In den fünfundsiebzig Jahren seines revolutionären Prozesses hat China in der Tat rasche Fortschritte gemacht, auch wenn es die vielen neuen Probleme lösen muss, die entstanden sind (nachzulesen in der internationalen Ausgabe der Zeitschrift Wenhua Zongheng oder 文化纵横). Chinas Meisterleistung, die Ketten der Abhängigkeit abzuschütteln, ist eine ausführliche Debatte wert, vielleicht bei einem Spaziergang entlang des Baiyangdian-Sees in der Xiong’an New Area.

Herzlichst,
Vijay