Der fünfzehnte Newsletter (2024)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Wir leben in unehrlichen Zeiten, in denen Gewissheiten zerbröckeln und Bösartigkeit durch die Landschaft streift. Da ist natürlich Gaza. Vor allem Gaza geht uns durch den Kopf. Seit dem 7. Oktober hat Israel mehr als 33.000 Palästinenser*innen getötet, mehr als 7.000 Menschen werden vermisst (davon 5.000 Kinder). Die israelische Regierung missachtet brutal die weltweite öffentliche Meinung, die sich gegen sie richtet. Milliarden von Menschen sind empört über die nackten Tatsachen der Gewalt, und dennoch sind wir nicht in der Lage, eine Armee, die beschlossen hat, ein ganzes Volk zu vernichten, zu einem Waffenstillstand zu zwingen. Die Regierungen des globalen Nordens widersprechen sich selbst: floskelhafte Phrasen der Besorgnis, um ihre eigene entmutigte Bevölkerung zu besänftigen, und dann Vetos bei den Vereinten Nationen und Waffenlieferungen an die israelische Armee. Dieses doppelzüngige Verhalten stärkt das Selbstvertrauen von Leuten wie dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und ermöglicht ihre Straffreiheit.
Dieselbe Straffreiheit erlaubte es Israel, am 1. April 2024 die UN-Charta (1945) und das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen (1961) zu verletzen, als es die iranische Botschaft in Damaskus, Syrien, bombardierte und dabei sechzehn Menschen tötete – darunter hochrangige iranische Militäroffiziere. Diese Straffreiheit ist ansteckend und breitet sich unter führenden Politikern aus, die sich durch Washingtons Arroganz ermutigt fühlen. Zu ihnen gehört Ecuadors Präsident Daniel Noboa, der am 5. April seine paramilitärischen Truppen in die mexikanische Botschaft in Quito schickte, um den ehemaligen Vizepräsidenten des Landes, Jorge Glas, festzunehmen, der von den mexikanischen Behörden politisches Asyl erhalten hatte. Die Regierung Noboa setzte sich ebenso wie die Regierung Netanjahu über die lange Geschichte der internationalen Respektierung von diplomatischen Beziehungen hinweg, ohne sich um die gefährlichen Folgen eines solchen Vorgehens zu kümmern. Führende Politiker*innen wie Netanjahu und Noboa haben das Gefühl, sich alles erlauben zu können, weil sie unter dem Schutz des globalen Nordens stehen, der ohnehin mit allem durchkommt.
Diplomatische Gepflogenheiten gibt es seit Hunderttausenden von Jahren und über Kulturen und Kontinente hinweg. Alte Texte, die von Zhuang Zhou in China und seinem Zeitgenossen in Indien, Kautilya, im vierten Jahrhundert v. Chr. verfasst wurden, legen die Bedingungen für ehrenhafte Beziehungen zwischen Staaten durch ihre Abgesandten fest. Diese Begriffe tauchen in fast allen Regionen der Welt auf, und es gibt Belege für Konflikte, die zu Vereinbarungen führen, die den Austausch von Gesandten zur Erhaltung des Friedens vorsehen. Diese Ideen aus der antiken Welt, einschließlich des römischen Rechts, beeinflussten die frühen europäischen Autoren des Völkergewohnheitsrechts: Hugo Grotius (1583-1645), Cornelis van Bijnkershoek (1673-1743) und Emer de Vattel (1714-1767). Es war dieses globale Verständnis der Notwendigkeit diplomatischer Höflichkeit, das die Idee der diplomatischen Immunität begründete.
1952 schlug die jugoslawische Regierung vor, dass die von der UNO eingesetzte Internationale Rechtskommission (ILC) die diplomatischen Beziehungen kodifizieren sollte. Zur Unterstützung der ILC ernannten die Vereinten Nationen den schwedischen Rechtsanwalt Emil Sandström, der den Vorsitz des UN-Sonderausschusses für Palästina (1947) innegehabt hatte, zum Sonderberichterstatter. Von Sandström unterstützt, entwarf die ILC Artikel über diplomatische Beziehungen, die von den 81 Mitgliedstaaten der UNO geprüft und verbessert wurden. Auf einer einmonatigen Tagung in Wien im Jahr 1961 nahmen alle Mitgliedstaaten an dem Übereinkommen über diplomatische Beziehungen teil. Zu den 61 Staaten, die es unterzeichneten, gehörten Ecuador und Israel sowie die Vereinigten Staaten. Alle drei Länder gehören somit zu den Gründerstaaten des Wiener Übereinkommens von 1961.
In Artikel 22 Absatz 1 des Wiener Übereinkommens heißt es: «Die Räumlichkeiten der Mission sind unverletzlich. Vertreter[*innen] des Empfangsstaates dürfen sie nur mit Zustimmung des Missionschefs betreten».
Bei einer Unterrichtung im UN-Sicherheitsrat über den jüngsten Angriff Israels auf die iranische Botschaft in Syrien erinnerte der stellvertretende chinesische Botschafter Geng Shuang seine Kolleg*innen daran, dass vor 25 Jahren die US-geführte NATO-Bombardierung Jugoslawiens zu einem Angriff auf die chinesische Botschaft in Belgrad führte. Damals entschuldigte sich US-Präsident Bill Clinton für den Angriff und nannte ihn ein «isoliertes, tragisches Ereignis». Israel und Ecuador haben sich für ihre Angriffe auf die iranische und mexikanische Botschaft nicht entschuldigt. Geng Shuang sagte vor dem Plenum: «Die rote Linie des internationalen Rechts und die grundlegenden Normen der internationalen Beziehungen werden immer wieder verletzt. Und auch die moralische Grundlinie des menschlichen Gewissens wird immer wieder verletzt». Bei diesem Briefing verurteilte der ecuadorianische Botschafter José De la Gasca den Angriff auf die iranische Botschaft in Damaskus. «Nichts rechtfertigt diese Art von Angriffen», sagte er. Wenige Tage später verletzte seine Regierung das Wiener Übereinkommen von 1961 und das Übereinkommen der Organisation Amerikanischer Staaten über diplomatisches Asyl von 1954, als sie Jorge Glas in der mexikanischen Botschaft verhaftete, ein Akt, der vom UN-Generalsekretär umgehend verurteilt wurde.
Derartige Verstöße gegen den Schutz von Botschaften sind nicht neu. Es gibt viele Beispiele dafür, dass radikale Gruppen – sowohl von links als auch von rechts – Botschaften angreifen, um ein politisches Ziel zu erreichen. Dazu gehört die Übernahme der US-Botschaft in Teheran 1979, als Student*innen 53 Mitarbeitende 444 Tage lang als Geiseln hielten. Es gibt aber auch mehrere Beispiele dafür, dass Regierungen gewaltsam in die Räumlichkeiten ausländischer Botschaften eingedrungen sind, wie 1985, als das südafrikanische Apartheidregime seine Truppen in die niederländische Botschaft schickte, um einen niederländischen Staatsbürger zu verhaften, der den Afrikanischen Nationalkongress unterstützt hatte, oder 1989, als die einmarschierende US-Armee die Residenz des nicaraguanischen Botschafters in Panama-Stadt durchsuchte. Keine dieser Interventionen blieb ohne Sanktionen und Forderung nach einer Entschuldigung. Weder Israel noch Ecuador – beides Unterzeichner des Wiener Übereinkommens von 1961 – haben jedoch irgendeine Geste der Entschuldigung gemacht. Weder der Iran noch Syrien unterhielten diplomatische Beziehungen zu Israel, und Mexiko brach im Zuge der jüngsten Ereignisse die diplomatischen Beziehungen zu Ecuador ab.
Die Gewalt breitet sich weltweit wie eine neue Pandemie aus, nicht nur im Gazastreifen, sondern auch in dem sich anbahnenden Konflikt um Ecuador und in den verheerenden Kriegen im Osten der Demokratischen Republik Kongo, im Sudan und in der anhaltenden Pattsituation in der Ukraine. Krieg zerstört den humanen Geist, aber er ruft auch einen enormen Instinkt hervor, auf die Straße zu gehen, um zu verhindern, dass weitere Abzüge betätigt werden. Immer wieder stößt dieses große Antikriegsgefühl auf den Zorn der Mächte, die die Friedensstifter*innen verhaften und sie – anstelle der Händler des Todes – als Verbrecher behandeln.
Der Iran hat eine glorreiche Tradition der Poesie, die auf Abu Abdallah Rudaki (858-941) zurückgeht und dann im Diwan von Khwaja Shams al-Din Muhammad Hafiz Shirazi (1320-1390) erstrahlt, der uns diesen bitteren Gedanken schenkte: In der Welt des Staubs leuchtet kein Mensch; es ist notwendig, eine andere Welt aufzubauen, einen neuen Adam zu schaffen.
In dieser Tradition der farsischen Poesie steht Garous Abdolmalekian (geb. 1980), dessen Gedichte vom Krieg und seinen Auswirkungen durchdrungen sind. Doch selbst inmitten von Kugeln und Panzern gibt es den starken Wunsch nach Frieden und Liebe, wie in seinem «Poem for Stillness» («Gedicht für die Stille», 2020):
Er rührt seinen Tee mit einem Gewehrlauf um
Er löst das Rätsel mit einem Gewehrlauf
Er kratzt seine Gedanken mit einem Gewehrlauf
Und manchmal
sitzt er sich selbst gegenüber
und holt Kugelerinnerungen
aus seinem Gehirn
Er hat in vielen Kriegen gekämpft
aber gegen seine eigene Verzweiflung ist er machtlos
Diese weißen Pillen
haben ihn so farblos gemacht
dass sein Schatten aufstehen muss
um ihm Wasser zu bringen
Wir sollten akzeptieren
dass kein Soldat
jemals zurückgekehrt ist
lebend
aus dem Krieg
Herzlichst,
Vijay