Tausende überleben ohne Liebe, aber keine*r ohne Wasser

Der vierzehnte Newsletter (2024)

Diego Rivera (Mexiko), El Agua, Origen de la Vida, 1951.

Liebe Freund*innen,

Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.

Bereits im November 2023 war klar, dass die israelische Regierung begonnen hatte, Palästinenser*innen im Gazastreifen den Zugang zu Wasser zu verweigern. «Jede weitere Stunde, in der Israel die Versorgung mit sauberem Trinkwasser im Gazastreifen unter schamlosem Bruch des Völkerrechts verhindert, bringt die Menschen im Gazastreifen in die Gefahr, zu verdursten oder an Krankheiten zu sterben, die auf den Mangel an sauberem Trinkwasser zurückzuführen sind», sagte Pedro Arrojo-Agudo, UN-Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und sanitäre Einrichtungen. «Israel», so Arrojo-Agudo, «muss aufhören, Wasser als Kriegswaffe einzusetzen». Bereits vor Israels jüngstem Angriff auf den Gazastreifen waren 97 Prozent des Wassers in Gazas einzigem küstennahen Grundwasseraquifer nach den Standards der Weltgesundheitsorganisation nicht mehr für den menschlichen Verzehr geeignet. Im Laufe seiner zahlreichen Angriffe hat Israel das Wasserreinigungssystem des Gazastreifens fast vollständig zerstört und die Einfuhr von Materialien und Chemikalien, die für die Reparatur benötigt werden, verhindert.

Anfang Oktober 2023 deuteten israelische Beamt*innen an, dass sie ihre Kontrolle über die Wasserversorgung des Gazastreifens als Mittel zum Völkermord nutzen würden. Wie der israelische Generalmajor Ghassan Alian, der Leiter der Koordinierung der Regierungsaktivitäten in den Gebieten (COGAT), am 10. Oktober sagte: «Mit menschlichen Bestien wird entsprechend verfahren. Israel hat eine totale Blockade über den Gazastreifen verhängt. Kein Strom, kein Wasser, nur Zerstörung. Ihr wolltet die Hölle, ihr werdet die Hölle bekommen». Am 19. März wies der UN-Koordinator für humanitäre Hilfe in Palästina, Jamie McGoldrick, darauf hin, dass der Gazastreifen «Ersatzteile für Wasser- und Abwassersysteme» sowie «Chemikalien zur Wasseraufbereitung» benötige, da der «Mangel an diesen kritischen Gütern einer der Hauptgründe für die Unterernährungskrise» sei. «Unterernährungskrise» ist schon ein spezieller Ausdruck für Hungersnot.

Faeq Hassan (Irak), The Water Carriers, 1957.

Der Angriff auf den Gazastreifen – dessen gesamte Bevölkerung laut Oxfam und der Integrierten Klassifizierung für Ernährungssicherheitsphasen (Integrated Food Security Phase Classification, kurz IPC) «derzeit mit einem hohen Maß an akuter Ernährungsunsicherheit konfrontiert ist» – hat die Widersprüche, mit denen die Menschen auf der Welt konfrontiert sind, noch verschärft. Ein UN-Bericht, der am Weltwassertag (22. März) veröffentlicht wurde, zeigt, dass im Jahr 2022 2,2 Milliarden Menschen keinen Zugang zu sicher bewirtschaftetem Trinkwasser haben, dass vier von fünf Menschen in ländlichen Gebieten nicht über eine Grundversorgung mit Trinkwasser verfügen und dass 3,5 Milliarden Menschen keine sanitären Anlagen haben. Infolgedessen sterben jeden Tag mehr als tausend Kinder unter fünf Jahren an Krankheiten, die auf unzureichende Wasserversorgung, Abwasserentsorgung und Hygiene zurückzuführen sind. Diese Kinder gehören zu den 1,4 Millionen Menschen, die jedes Jahr an den Folgen dieses Mangels sterben. Der UN-Bericht stellt fest, dass Frauen und Mädchen, weil sie sich normalerweise um die Wasserbeschaffung kümmern, mehr Zeit mit der Suche nach Wasser verbringen, wenn sich Wassersysteme aufgrund unzureichender oder nicht vorhandener Infrastruktur oder wegen Dürren, die durch den Klimawandel noch verschärft werden, verschlechtern. Dies hat zu höheren Schulabbrecherquoten bei Mädchen geführt.

Newsha Tavakolian (Iran), Ohne Titel, 2010-2011.

Eine Studie von UN Women aus dem Jahr 2023 beschreibt die Gefahren, die die Wasserkrise für Frauen und Mädchen mit sich bringt:

Ungleichheiten beim Zugang zu sauberem Trinkwasser und sanitären Einrichtungen betreffen nicht alle Menschen gleichermaßen. Das größere Bedürfnis nach Privatsphäre während der Menstruation bedeutet zum Beispiel, dass Frauen und Mädchen und andere Menschen, die menstruieren, seltener gemeinsame Sanitäranlagen nutzen als Menschen, die nicht menstruieren, was die Wahrscheinlichkeit von Infektionen der Harn- und Geschlechtsorgane erhöht. Wo keine sicheren und geschützten Einrichtungen zur Verfügung stehen, sind die Möglichkeiten zur Nutzung der Einrichtungen oft auf die Morgen- und Abendstunden beschränkt, was Risikogruppen der Gewalt aussetzt.

Der fehlende Zugang zu öffentlichen Toiletten an und für sich ist eine ernste Gefahr für Frauen in Städten auf der ganzen Welt, wie z. B. in Dhaka, Bangladesch, wo es eine öffentliche Toilette pro 200.000 Menschen gibt.

Aboudia (Côte d’Ivoire), Les trois amis II, 2018.

Der Zugang zu Trinkwasser wird durch die Klimakatastrophe weiter erschwert. So führt die Erwärmung der Ozeane zum Beispiel zur Gletscherschmelze, wodurch der Meeresspiegel steigt und Salzwasser die unterirdischen Grundwasserleiter leichter verseuchen kann. Durch die geringeren Schneefälle gibt es weniger Wasser in den Reservoirs, was wiederum weniger Wasser zum Trinken und für die Landwirtschaft bedeutet. Wie aus dem UN-Wasserbericht hervorgeht, kommt es bereits jetzt vermehrt zu Dürren, von denen mindestens 1,4 Milliarden Menschen direkt betroffen sind.

Nach Angaben der Vereinten Nationen leidet die Hälfte der Weltbevölkerung zumindest während eines Teils des Jahres unter schwerem Wassermangel, während ein Viertel der Bevölkerung mit «extrem hohem» Wasserstress konfrontiert ist. «Der Klimawandel wird voraussichtlich die Häufigkeit und den Schweregrad dieser Phänomene erhöhen, was mit akuten Risiken für die soziale Stabilität verbunden ist», so die UN. Die Frage der sozialen Stabilität ist von zentraler Bedeutung, da die Dürren Dutzende von Millionen Menschen in die Flucht und in den Hunger treiben.

Ibrahim Hussein (Malaysia), The Game, 1964.

Der Klimawandel ist zweifellos eine der Hauptursachen für die Wasserkrise, aber das gilt auch für die regelbasierte internationale Ordnung. Kapitalistische Regierungen dürfen sich nicht auf eine ahistorische Darstellung vom Klimawandel berufen können, um sich vor ihrer Verantwortung für die Wasserkrise zu drücken. In den letzten Jahrzehnten haben es die Regierungen in aller Welt beispielsweise versäumt, die Abwasseraufbereitungsanlagen zu verbessern. Infolgedessen werden 42 % der Haushaltsabwässer nicht ordnungsgemäß behandelt, was Ökosysteme und Grundwasserleiter schädigt. Noch schlimmer ist die Tatsache, dass nur 11 % der häuslichen und industriellen Abwässer wiederverwendet werden.

Höhere Investitionen in die Abwasseraufbereitung würden die Verschmutzung der Wasserquellen verringern und eine bessere Nutzung des Süßwassers ermöglichen, das uns auf dem Planeten zur Verfügung steht. Es gibt eine Reihe vernünftiger Maßnahmen, die zur sofortigen Bewältigung der Wasserkrise ergriffen werden könnten, wie z. B. die von UN Water vorgeschlagenen Maßnahmen zum Schutz der Mangroven und Feuchtgebiete an der Küste, zur Sammlung von Regenwasser, zur Wiederverwendung von Abwasser und zum Schutz des Grundwassers. Aber das sind genau die Maßnahmen, die von kapitalistischen Unternehmen abgelehnt werden, deren Profit durch die Zerstörung der Natur gesteigert wird.

Im März 2018 haben wir unser zweites Dossier Cities Without Water («Städte ohne Wasser») veröffentlicht. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, was wir damals, vor sechs Jahren, offengelegt haben:

“Das Technical Paper VI des Weltklimarats (Intergovernmental Panel on Climate Change, kurz IPCC) vom Juni 2008 befasst sich mit dem Thema Klimawandel und Wasser. Der wissenschaftliche Konsens in diesem Dokument ist, dass die durch den kohlenstoffintensiven Kapitalismus hervorgerufenen Veränderungen der Wettermuster negative Auswirkungen auf den Wasserkreislauf haben. Es kann sein, dass in Gebieten, in denen es mehr regnen wird, nicht dementsprechend mehr Grundwasser vorhanden sein wird, aufgrund der Geschwindigkeit des Regens, der zu einer schnellen Bewegung des Wassers in die Ozeane führt. Solche schnellen Regenfälle füllen weder die Aquifere auf, noch ermöglichen sie die Speicherung von Wasser durch den Menschen. Wissenschaftler*innen sagen auch eine Zunahme an Dürre in Regionen wie dem Mittelmeerraum und dem südlichen Afrika voraus. In diesem technischen Bericht wird die Zahl von über einer Milliarde Menschen genannt, die unter Wasserknappheit leiden werden.

Seit einem Jahrzehnt warnt das Umweltprogramm der Vereinten Nationen vor der Zunahme wasserintensiver Lebensstile und der Wasserverschmutzung. Beides – Lebensstil und Verschmutzung – sind Folgen der Ausbreitung kapitalistischer sozialer Beziehungen und kapitalistischer Produktionsmechanismen auf dem gesamten Planeten. Was den Lebensstil anbelangt, so verbraucht ein*e durchschnittliche Einwohner*in in den Vereinigten Staaten zwischen 300 und 600 Liter Wasser pro Tag. Diese Zahl ist irreführend. Sie bedeutet nicht, dass der Einzelne so große Mengen an Wasser verbraucht. Ein Großteil dieses Wassers wird in der wasserintensiven Landwirtschaft und in der wasserintensiven Industrieproduktion, einschließlich der Energieerzeugung, verbraucht. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt einen Pro-Kopf-Verbrauch von 20 Litern Wasser pro Tag für die grundlegende Hygiene und die Zubereitung von Lebensmitteln. Die Kluft zwischen diesen beiden Werten ist nicht zufällig. Sie zeugt von einem wasserintensiven Lebensstil – Nutzung von Waschmaschinen und Geschirrspülern, das Waschen von Autos und die Bewässerung von Gärten sowie die Nutzung von Wasser in Fabriken und landwirtschaftlichen Betrieben.

Wasserverschmutzung ist ein ernstes Problem. In Esquel, Argentinien, erkannten die Menschen, dass die Schadstoffe aus dem von Unternehmen betriebenen Goldabbau ihr Trinkwasser ruinierten. «Wasser ist mehr wert als Gold» («El agua vale más que el oro»), sagten sie. Die rücksichtslosen Abbaumethoden der Bergbaukonzerne (unter Verwendung von Zyanid) und die Anbaumethoden der Agrarindustrie (unter Verwendung von Düngemitteln und Pestiziden) haben die Reservoirs mit sauberem Wasser ruiniert. Ihr blaues Gold, so sagen die Einwohner*innen von Esquel, ist wichtiger als echtes Gold. Sie hielten 2003 eine öffentliche Versammlung ab, in der sie ihr Recht auf ihr Wasser gegenüber den Interessen der privaten Unternehmen geltend machten.

Es sei darauf hingewiesen, dass die Wassermenge, die benötigt würde, um 4,7 Milliarden Menschen mit dem täglichen WHO-Minimum zu versorgen, 9,5 Milliarden Liter betragen würde – genau die Menge, die jeden Tag für die Bewässerung der Golfplätze der Welt verwendet wird. Das Wasser, das 60.000 Dörfer in Thailand verbrauchen, wird zum Beispiel für die Bewässerung eines einzigen Golfplatzes in Thailand verwendet. Dies sind die Prioritäten unseres derzeitigen Systems.”

Mit anderen Worten: Die Bewässerung von Golfplätzen ist wichtiger als die Versorgung von Tausenden von Kindern unter fünf Jahren, die jeden Tag aufgrund von Wassermangel sterben. Das sind die Werte des kapitalistischen Systems.

Herzlichst,
Vijay