Der siebzehnte Newsletter (2024)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Vor fünfzig Jahren, am 25. April 1974, ging das portugiesische Volk in großer Zahl auf die Straßen seiner Städte und Gemeinden, um die faschistische Diktatur des Estado Novo («Neuer Staat») zu stürzen, die 1926 offiziell errichtet worden war. Das faschistische Portugal, das bis 1968 von António de Oliveira Salazar und danach von Marcelo Caetano geführt wurde, wurde 1949 in die Nordatlantikpakt-Organisation (NATO), 1955 in die Vereinten Nationen und 1961 in die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung aufgenommen und unterzeichnete 1972 einen Pakt mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Die Vereinigten Staaten und Europa arbeiteten eng mit den Regierungen Salazar und Caetano zusammen und verschlossen die Augen vor deren Gräueltaten.
Vor über einem Jahrzehnt besuchte ich das Aljube-Museum – Widerstand und Freiheit in Lissabon, das von 1928 bis 1965 als Folterstätte für politische Gefangene diente. In dieser Zeit wurden Zehntausende von Gewerkschafter*innen, Studentenaktivist*innen, Kommunist*innen und Rebell*innen aller Art dorthin gebracht, gefoltert und viele von ihnen getötet – oft mit großer Grausamkeit. Die Alltäglichkeit dieser Brutalität durchdringt die Hunderte von Geschichten, die im Museum aufbewahrt werden. Am 31. Juli 1958 brachten Folterer den Schweißer Raúl Alves aus dem Aljube-Gefängnis in den dritten Stock des Hauptquartiers der Geheimpolizei und warfen ihn in den Tod. Heloísa Ramos Lins, die Frau des damaligen brasilianischen Botschafters in Portugal, Álvaro Lins, fuhr in diesem Moment vorbei, sah den tödlichen Sturz von Alves und informierte ihren Mann. Als sich die brasilianische Botschaft an das portugiesische Innenministerium wandte, um zu erfahren, was passiert war, antwortete die Diktatur des Estado Novo: «Es gibt keinen Grund, so schockiert zu sein. Es handelt sich lediglich um einen unbedeutenden Kommunisten».
Es waren «unbedeutende Kommunisten» wie Raúl Alves, die die Revolution vom 25. April auslösten, die auf einer Welle von Arbeiter*innenaktionen im Jahr 1973 aufbaute, die mit den Flughafenarbeiter*innen in Lissabon begann und sich dann auf die Streiks der Textilarbeiter*innen in Braga und Covilha, die Streiks der Ingenieurarbeiter*innen in Aveiro und Porto und den Streik der Glasarbeiter*innen in Marinha Grande ausweitete.
Zu dieser Zeit las der Diktator Caetano das Buch Portugal und die Zukunft von General António de Spínola, der während des Spanischen Bürgerkriegs von Befehlshabern des faschistischen Generals Francisco Franco ausgebildet worden war, eine Militärkampagne in Angola leitete und früher Gouverneur des Estado Novo in Guinea-Bissau war. In seinem Buch plädierte Spínola dafür, dass Portugal seine koloniale Besatzung beenden sollte, da es die Kontrolle über die portugiesischen Kolonien in Afrika verlor. In seinen Memoiren schrieb Caetano, dass er, als er das Buch beendet hatte, begriff, «dass der Militärputsch, den ich schon kommen sah, nun unvermeidlich war».
Was Caetano nicht voraussah, war die Einheit zwischen Arbeiter*innen und Soldaten (die selbst Teil der Arbeiterklasse waren), die sich im April 1974 kristallisierte. Die Soldaten hatten die Nase voll von den Kolonialkriegen, die es trotz der großen Brutalität des Estado Novo nicht geschafft hatten, das Aufbegehren der Menschen in Angola, Kap Verde, Guinea-Bissau, Mosambik und São Tomé und Príncipe zu unterdrücken. Die Vorstöße der Afrikanischen Partei für die Unabhängigkeit von Guinea-Bissau und Kap Verde (PAIGC), der Front für die Befreiung Mosambiks (FRELIMO) und der Volksbewegung für die Befreiung Angolas (MPLA) waren beachtlich, und die portugiesische Armee verlor so viele Soldaten wie seit dem achtzehnten Jahrhundert nicht mehr. Mehrere dieser Formationen erhielten Unterstützung aus der UdSSR und der DDR, aber sie gewannen die Kämpfe gegen den Kolonialismus letztlich aus eigener Kraft und Initiative (wie unsere Kolleg*innen vom Internationalen Forschungszentrum DDR dokumentiert haben).
Am 9. September 1973 trafen sich in Portugal Soldaten, die nach Guinea-Bissau entsandt worden waren, um die Bewegung der Streitkräfte (MFA) zu gründen. Im März 1974 verabschiedete die MFA ihr vom marxistischen Soldaten Ernesto Melo Antunes ausgearbeitetes Programm «Demokratie, Entwicklung und Entkolonialisierung». Als die Revolution im April ausbrach, erklärte Antunes: «Wenige Stunden nach Beginn des Putsches, am selben Tag, begann die Massenbewegung. Das hat ihn sofort in eine Revolution verwandelt. Als ich das Programm des MFA schrieb, hatte ich dies nicht vorhergesehen, aber die Tatsache, dass es geschah, zeigte, dass das Militär im Einklang mit dem portugiesischen Volk handelte». Wenn Antunes von den «Militärs» sprach, meinte er Soldaten, denn in der MFA war niemand höher als Hauptleute und die Bewegung blieb in der Arbeiterklasse verwurzelt, aus der sie entstanden war.
Im Dezember 1960 verkündete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die «Notwendigkeit, dem Kolonialismus in all seinen Formen und Ausprägungen ein schnelles und bedingungsloses Ende zu setzen». Das Regime des Estado Novo lehnte diese Position ab. Am 3. August 1959 schossen portugiesische Kolonialsoldaten in Pidjiguiti im Hafen von Bissau auf Seeleute und Hafenarbeiter*innen und töteten über fünfzig Menschen. Am 16. Juni 1960 schossen die Kolonialherren des Estado Novo in der Stadt Mueda (Mosambik) auf eine kleine, unbewaffnete Demonstration von Befürworter*innen der nationalen Befreiung, die vom Landrat eingeladen worden waren, um ihre Ansichten darzulegen. Bis heute ist nicht bekannt, wie viele Menschen dabei getötet wurden. Am 4. Januar 1961 wurde ein Streik in Baixa do Cassange (Angola) von den Portugiesischen Kräften unterdrückt, wobei zwischen 1.000 und 10.000 Angolaner*innen getötet wurden. Diese drei Vorfälle zeigten, dass die portugiesischen Kolonialherren nicht gewillt waren, zivile Unabhängigkeitsbewegungen zu dulden. Es war der Estado Novo, der diesen Teilen Afrikas den bewaffneten Kampf aufzwang und die PAIGC, die MPLA und die FRELIMO dazu veranlasste, zu den Waffen zu greifen.
Agostinho Neto (1922-1979) war ein kommunistischer Dichter, ein Führer der MPLA und der erste Präsident des unabhängigen Angola. In einem Gedicht mit dem Titel «Massaker von São Tomé» fasste Neto die Aufstandsstimmung gegen den portugiesischen Kolonialismus ein:
Damals brannte es in den Augen als wir
mal mit Blut, mal mit Leben, mal mit Tod,
siegreich unsere Toten begruben
und auf den Gräbern erkannten wir
den Grund für das Opfer dieser Männer
für die Liebe,
und für die Harmonie,
und für unsere Freiheit
selbst im Angesicht des Todes, durch die Kraft der Zeit
in blutbefleckten Gewässern
selbst in den kleinen Niederlagen, die sich zum Sieg anhäufen
In uns
wird das grüne Land von São Tomé
auch die Insel der Liebe sein.
Diese Insel der Liebe sollte nicht nur in ganz Afrika, von Praia bis Luanda, sondern auch in Portugal entstehen. Am 25. April 1974 arbeitete Celeste Caeiro, eine vierzigjährige Kellnerin, in einem Selbstbedienungsrestaurant namens Sir im Franjinhas-Gebäude in der Straße Braancamp in Lissabon. Da das Restaurant sein einjähriges Bestehen feierte, beschloss der Besitzer, rote Nelken an die Kunden zu verteilen. Als Celeste ihm von der Revolution erzählte, beschloss er, das Sir für diesen Tag zu schließen, den Angestellten die Nelken zu geben und sie aufzufordern, die Nelken mit nach Hause zu nehmen. Celeste selber machte sich auf den Weg ins Stadtzentrum, wo sich die Ereignisse überschlugen. Auf dem Weg dorthin wurde sie von einigen Soldaten um eine Zigarette gebeten, aber sie steckte ihnen stattdessen ein paar Nelken in die Gewehrläufe. Das kam gut an, und die Blumenhändler der Baixa beschlossen, ihre roten Nelken, die gerade Saison hatten, als Emblem der Revolution zu verschenken. Aus diesem Grund wurde die Revolution von 1974 als Nelkenrevolution bezeichnet, eine Revolution der Blumen gegen die Gewehre.
Die soziale Revolution in Portugal von 1974-1975 führte eine große Mehrheit der Menschen zu einer neuen Sensibilität, aber der Staat weigerte sich zu kapitulieren. Er rief die Dritte Republik ins Leben, deren Präsidenten allesamt aus den Reihen des Militärs und der Junta der Nationalen Rettung stammten: António de Spínola (April-September 1974), Francisco da Costa Gomes (September 1974-Juli 1976) und António Ramalho Eanes (Juli 1976-März 1986). Es handelte sich dabei nicht um Männer aus den eigenen Reihen, sondern um die alten Generäle. Dennoch waren sie schließlich gezwungen, die alten Strukturen des Estado Novo-Kolonialismus aufzugeben und sich aus ihren Kolonien in Afrika zurückzuziehen.
Amílcar Cabral (1924-1973), der in diesem September vor hundert Jahren geboren wurde und der mehr als viele andere zum Aufbau der afrikanischen Widerstände gegen den Kolonialismus des Estado Novo beigetragen hat, erlebte die Unabhängigkeit der afrikanischen Kolonien Portugals nicht mehr. Auf der Trikontinental-Konferenz 1966 in Havanna, Kuba, warnte Cabral, dass es nicht genüge, das alte Regime loszuwerden, und dass noch schwieriger als der Sturz des Regimes sei, eine neue Welt aus der alten aufzubauen, von Portugal bis Angola, von Kap Verde bis Guinea-Bissau, von Mosambik bis São Tomé und Príncipe. Der wichtigste Kampf nach der Entkolonialisierung, so Cabral, sei der «Kampf gegen unsere eigenen Schwächen». Dieser «Kampf gegen uns selbst», so Cabral weiter, «ist der schwierigste von allen», denn er ist ein Kampf gegen die «inneren Widersprüche» unserer Gesellschaften, gegen die aus dem Kolonialismus stammende Armut und gegen die elenden Hierarchien in unseren komplexen kulturellen Formationen.
Angeführt von Menschen wie Cabral haben die Befreiungskämpfe in Afrika nicht nur die Unabhängigkeit in ihren eigenen Ländern errungen, sondern auch den Estado-Novo-Kolonialismus besiegt und dazu beigetragen, dass die Demokratie in Europa Einzug hielt. Aber das war nicht das Ende des Kampfes. Er eröffnete neue Widersprüche, von denen viele bis heute in verschiedenen Formen fortbestehen. Wie Cabral oft zum Abschluss seiner Reden sagte: a luta continua. Der Kampf geht weiter.
Herzlichst,
Vijay