Der achtzehnte Newsletter (2024)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Es war unvermeidlich, dass die uneingeschränkte Unterstützung der Regierungen des Globalen Nordens für Israels Völkermord an den Palästinenser*innen zu einer heftigen Vergeltung seitens ihrer eigenen Bürger*innen führen würde. Dass diese Vergeltung in den Vereinigten Staaten ihren Anfang nahm, ist angesichts der anhaltenden Proteste, die sich seit Oktober 2023 gegen den Blankoscheck der US-Regierung an die israelische Regierung richten, ebenfalls keine Überraschung. Die USA finanzieren Israels Vernichtungsfeldzug gegen die die palästinensische Bevölkerung mit mehr als hundert Waffenlieferungen an Israel seit dem 7. Oktober und Milliarden von Dollar an Hilfsgeldern.
Schon seit langem spüren junge Menschen in den Vereinigten Staaten – wie auch in anderen Ländern des Globalen Nordens –, dass ihre Gesellschaft ihnen keine Perspektive mehr bietet. Permanente prekäre Arbeit erwartet sie, selbst diejenigen mit höheren Abschlüssen, und aufgrund dieses eigenen Strebens nach einem menschenwürdigen Leben haben sie ein stärkeres Verständnis für die Kostbarkeit von Moral entwickelt. Die Brutalität der Sparpolitik und patriarchalische Werte zwingen sie, sich gegen die herrschende Klasse zu wenden. Sie wollen etwas Besseres. Die Angriffe auf Palästinenser*innen haben zu einem Bruch geführt. Wie weit diese jungen Menschen noch gehen werden, bleibt abzuwarten.
Überall in den Vereinigten Staaten haben Studierende auf mehr als hundert Universitätsgeländen Protestlager errichtet, darunter die renommiertesten Einrichtungen des Landes wie Columbia, Massachusetts Institute of Technology, Stanford, Emory, Washington University in St. Louis, Vanderbilt und Yale. Die Studierenden gehören einer Reihe lokaler Hochschulgruppen und nationaler Organisationen an, darunter Students for Justice in Palestine, Palestinian Youth Movement, Jewish Voice for Peace, CodePink, die Democratic Socialists of America und die Party for Socialism and Liberation. In diesen Zeltlagern singen und studieren, beten und diskutieren die Studierenden. Diese Universitäten haben ihre riesigen Stiftungsgelder in Fonds investiert, die mit der Waffenindustrie und israelischen Unternehmen verflochten sind, wobei sich die gesamten Stiftungsgelder von US-Hochschulen auf etwa 840 Milliarden Dollar belaufen. Diese Studierenden wollen nicht länger mit ansehen, wie ihre ständig wachsenden Studiengebühren an Institutionen gehen, die an diesem Völkermord beteiligt sind und davon profitieren. Deshalb sind sie entschlossen, mit ihrem Körper Widerstand zu leisten.
Die Demokratie wird ausgehöhlt, wenn grundlegende zivile Aktionen wie diese mit der vollen Wucht des staatlichen Repressionsapparates beantwortet werden. Die Hochschulverwaltungen und die örtlichen städtischen Behörden haben schwer bewaffnete Polizeikräfte entsandt, um die Lager mit allen Mitteln zu räumen.An mehreren Universitäten boten ihnen auf den Dächern des Campus postierte Scharfschützen Verstärkung. Szenen von aufgebrachten Student*innen und Fakultätsmitgliedern, die von Poliziste*innen in Einsatzkleidung von ihrem Campus weggezerrt, getasert, brutal behandelt und verhaftet werden, sind in den sozialen Medien zu sehen. Doch anstatt die Jugend zu demoralisieren, führten diese gewalttätigen Maßnahmen lediglich dazu, dass nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in weiter entfernten Ländern wie Australien, Kanada, Frankreich, Italien und dem Vereinigten Königreich neue Zeltlager an Universitäten errichtet wurden. Ausreden wie die, dass die Zelte eine Brandgefahr darstellen, mögen die Verwaltenden in ihrer Entschlossenheit bestärken, aber sie haben keinen Bestand vor den Studierenden oder den Lehrkräften, die auf die Straße gingen, um ihre Student*innen zu verteidigen, und auch nicht vor den besorgten Menschen in der ganzen Welt. Die Bilder dieser Gewalt erinnern an die Fotos von den Massakern an US-Studierenden, die gegen den Vietnamkrieg protestierten, und an die Polizeihunde, die während der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung auf schwarze Kinder losgelassen wurden.
Es ist nicht das erste Mal, dass junge Menschen, insbesondere Uni-Student*innen, in einer von Kompromissen verkrusteten Welt Klarheit zu erschaffen versuchen. In den Vereinigten Staaten haben frühere Generationen dafür gekämpft, dass sich ihre Colleges von der Apartheid in Südafrika und von den abscheulichen, von den USA geführten Kriegen in Südostasien und Mittelamerika zurückziehen. 1968 brachen junge Menschen von Frankreich bis Indien, von den Vereinigten Staaten bis Japan in Wut über die imperialistischen Kriege in Algerien, Palästina und Vietnam aus, wobei sie ihre Blicke auf die von Mordkultur geprägten Regierungen in Paris, Tel Aviv und Washington richteten. Der pakistanische Dichter Habib Jalib fing ihren Protest ein und sang am Mochi Gate in Lahore kyun darate ho zindan ki divar se (Warum erschreckst du mich mit Gefängnisgittern?) und dann zulm ki baat ko jahl ki raat ko, main nahin manta main nahin jaanta (Worte der Unterdrückung, Nacht der Ignoranz, ich weigere mich, sie anzuerkennen, ich weigere mich, sie zu akzeptieren).
Da wir uns am Anfang des Monats Mai befinden, liegt es auf der Hand, an die mutigen jungen Chines*innen zu erinnern, die am 4. Mai 1919 auf die Straße gingen, um die Demütigungen zu verurteilen, die dem chinesischen Volk während der Pariser Friedenskonferenz (die zum Vertrag von Versailles führte) aufgezwungen wurden. Während der Konferenz beschlossen die imperialistischen Mächte, Japan einen großen Teil der Provinz Shandong zu überlassen, die Deutschland 1898 von China beschlagnahmt hatte. In dieser Machtübergabe sah die chinesische Jugend die Schwäche der 1911 gegründeten chinesischen Republik. Mehr als viertausend Student*innen von dreizehn Universitäten in Peking gingen auf die Straße und trugen ein Transparent mit der Aufschrift «Kämpft für Souveränität gegen aussen, eliminiert Nationalverräter im Inneren». Sie waren wütend sowohl auf die imperialistischen Mächte als auch auf ihre eigene sechzigköpfige Delegation bei der Pariser Konferenz unter der Leitung von Außenminister Lu Zhengxiang. Liang Qichao, ein Mitglied der Delegation, war so frustriert über den Vertrag, dass er am 2. Mai ein Bulletin nach China zurückschickte, das veröffentlicht wurde und die chinesischen Student*innen anspornte. Die Studierendenproteste setzten die chinesische Regierung unter Druck, pro-japanische Beamte wie Cao Rulin, Zhang Zongxiang und Lu Zongyu zu entlassen. Am 28. Juni weigerte sich die chinesische Delegation in Paris, den Vertrag zu unterzeichnen.
Die Aktionen der chinesischen Studierenden waren wirkungsvoll und weitreichend, denn ihre Bewegung des Vierten Mai protestierte nicht nur gegen den Vertrag von Versailles, sondern entfaltete eine umfassende Kritik an Chinas verfaulter republikanischer Elitenkultur. Die Student*innen wollten mehr, und ihr Patriotismus fand Rückhalt in Strömungen des linken Denkens wie dem Anarchismus, aber vor allem im Marxismus. Nur zwei Jahre später gründeten einige der wichtigen jungen männlichen Intellektuellen, die durch diesen Aufstand geprägt wurden, wie Li Dazhao, Chen Duxiu und Mao Zedong, 1921 die Kommunistische Partei Chinas. Weibliche Führungspersönlichkeiten gründeten Organisationen, die Millionen von Frauen in das politische und intellektuelle Leben einführten und später zu Kernelementen der Kommunistischen Partei wurden. So gründete Cheng Junying die Akademische Frauenvereinigung in Peking, Xu Zonghan die Frauenvereinigung in Shanghai, Guo Longzhen, Liu Qingyang, Deng Yingchao und Zhang Ruoming die Patriotische Frauenvereinigung in Tianjin, und Ding Ling wurde zu einer der führenden Geschichtenerzählerinnen auf dem Lande. Dreißig Jahre nach der Bewegung des Vierten Mai rangierten viele dieser Männer und Frauen ihr verrottetes politisches System aus und gründeten die Volksrepublik China.
Wer weiß, wohin die Verweigerung der Studierenden im Globalen Norden von heute führen wird. Die Weigerung der Studierenden, die Ausreden der herrschenden Klasse anzuerkennen und deren Politik zu akzeptieren, hat sich tiefer in den Boden gegraben als ihre Zelte. Die Polizei kann sie verhaften, brutal behandeln und ihre Lager räumen, aber dadurch wird es nur noch schwieriger, die Radikalisierung zu verhindern.
Mitten in der Zeit der Bewegung des Vierten Mai schrieb der Dichter Zhu Ziqing (1898-1948) das Gedicht «Helligkeit». Seine Worte eilen von 1919 bis in unsere Zeit, von einer Studierendengeneration zur anderen:
In der tiefen und stürmischen Nacht,
liegt eine karge Wildnis vor uns.
Wenn man die karge Wildnis hinter sich gelassen hat,
Liegt dort der Weg des Volkes.
Ah! In der Dunkelheit, unzählige Wege,
Wie soll ich sie richtig beschreiten?
Gott! Schnell, gib mir ein wenig Licht,
Lass mich vorwärtskommen!
Gott antwortet schnell: Licht?
Ich kann keins für dich finden.
Du willst Licht?
Du musst es selbst erschaffen!
Das ist es, was die jungen Menschen tun: Sie erschaffen dieses Licht, und selbst wenn viele der Älteren es zu verdunkeln versuchen, wirft die Helligkeit ihrer Seelen weiterhin Licht auf die Erbärmlichkeit unseres Systems – in seinem Kern die Hässlichkeit des israelischen Krieges – und auf die Verheißung der Menschlichkeit.
Herzlichst,
Vijay