Die pazifischen Länder und Meere sind weder verloren noch vergessen

Der neunundzwanzigste Newsletter (2024)

Mahiriki Tangaroa (Kūki ‘Airani), Blessed Again by the Gods (Spring), 2015.

Liebe Freund*innen,

Grüße vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.

Seit Mai erschüttert ein heftiger Kampf Kanaky (Neukaledonien), eine Inselgruppe im Pazifik, etwa 1.500 Kilometer östlich von Australien gelegen. Die Insel, eines der fünf von Frankreich beherrschten Überseegebiete im asiatisch-pazifischen Raum, steht seit 1853 unter französischer Kolonialherrschaft. Das indigene Volk der Kanak löste den gegenwärtigen Protestzyklus aus, nachdem die französische Regierung von Emmanuel Macron das Wahlrecht bei den Provinzwahlen auf Tausende französischer Siedler*innen auf den Inseln ausgeweitet hatte. Die Unruhen veranlassten Macron dazu, die neuen Regulierungen auszusetzen, während die Inselbewohner*innen schweren Repressionen ausgesetzt waren. In den letzten Monaten hat die französische Regierung den Ausnahmezustand und eine Ausgangssperre über die Inseln verhängt und Tausende von französischen Truppen stationiert, die laut Macron «so lange wie nötig» in Neukaledonien bleiben werden. Mehr als tausend Demonstrant*innen wurden von den französischen Behörden verhaftet, darunter auch Kanak-Unabhängigkeitsaktivist*innen wie Christian Tein, der Leiter der Koordinationszelle für Geländeaktionen (Cellule de coordination des actions de terrain, kurz CCAT), von denen einige nach Frankreich geschickt wurden, um dort vor Gericht gestellt zu werden. Die Anklagen gegen Tein und andere, z. B. wegen organisierter Kriminalität, wären lächerlich, wenn die Folgen nicht so gravierend wären.

Der Grund, warum Frankreich so hart gegen die Proteste in Neukaledonien vorgegangen ist, liegt darin, dass das altimperiale Land seine Kolonien nicht nur braucht, um deren Rohstoffe auszubeuten, sonder auch, um seinen politischen Einfluss in der ganzen Welt zu festigen – in diesem Fall, um einen militärischen Einflussbereich in der Nähe Chinas zu haben. Diese Geschichte ist alles andere als neu: Zwischen 1966 und 1996 nutzte Frankreich Inseln im südlichen Pazifik für Atomtests. Einer dieser Tests, die Operation Centaure (Juli 1974), traf alle 110.000 Bewohner*innen des Mururoa-Atolls von Französisch-Polynesien. Im Kampf der indigenen Kanak-Völker Neukaledoniens geht es nicht nur um die Befreiung vom Kolonialismus, sondern auch um die schreckliche militärische Gewalt, die der globale Norden diesen Ländern und Gewässern angetan hat. Die Gewalt, die von 1966 bis 1996 andauerte, spiegelt die Missachtung wider, die die Franzosen immer noch für die Inselbevölkerung empfinden, indem sie sie wie Strandgut behandeln, als wären sie hier Schiffbrüchige.
Hintergrund der aktuellen Unruhen in Neukaledonien ist die zunehmende Militarisierung des Pazifiks durch den globalen Norden, allen voran die Vereinigten Staaten. Derzeit führen 25.000 Militärangehörige aus 29 Ländern die Rim of the Pacific (RIMPAC) durch, eine Militärübung, die sich von Hawaii bis an den Rand des asiatischen Festlands erstreckt. Tricontinental: Institute for Social Research hat mit einer Reihe von Organisationen – darunter einige aus dem Pazifik und dem Indischen Ozean – zusammengearbeitet, um den Red Alert Nr. 18 zu dieser gefährlichen Entwicklung zu verfassen. Die Namen der Organisationen sind unten aufgeführt.

Sie machen die pazifischen Gewässer zu Gefahrenzonen

Was ist RIMPAC (Rim of the Pacific)?

Die USA und ihre Verbündeten halten seit 1971 RIMPAC-Übungen ab. Die ursprünglichen Partner dieses Militärprojekts waren Australien, Kanada, Neuseeland, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten, die auch die ursprünglichen Mitglieder des Geheimdienstnetzes Five Eyes (jetzt Fourteen Eyes) sind, das zum Informationsaustausch und zur Durchführung gemeinsamer Überwachungsübungen eingerichtet wurde. Sie sind auch die wichtigsten anglophonen Länder der 1949 gegründeten Nordatlantikvertrags-Organisation (NATO) und Mitglieder des 1951 unterzeichneten australisch-neuseeländischen und amerikanischen Strategievertrags ANZUS. RIMPAC hat sich zu einer großen, alle zwei Jahre stattfindenden Militärübung entwickelt, an der eine Reihe von Ländern mit unterschiedlicher Zugehörigkeit zum Globalen Norden teilnehmen (Belgien, Brasilien, Brunei, Chile, Kolumbien, Ecuador, Frankreich, Deutschland, Indien, Indonesien, Israel, Italien, Japan, Malaysia, Mexiko, die Niederlande, Peru, die Philippinen, die Republik Korea, Singapur, Sri Lanka, Thailand und Tonga).

Die RIMPAC 2024 begann am 28. Juni und läuft bis zum 2. August. Sie findet in Hawai’i statt, einem von den Vereinigten Staaten illegal besetzten Gebiet. Die hawaiianische Unabhängigkeitsbewegung leistet seit langem Widerstand gegen die RIMPAC, die als ein Element der US-Besetzung von souveränem hawaiianischem Land verstanden wird. An der Übung nehmen über 150 Flugzeuge, 40 Überwasserschiffe, drei U-Boote, 14 nationale Landstreitkräfte und andere militärische Ausrüstung aus 29 Ländern teil, wobei der Großteil der Flotte aus den Vereinigten Staaten stammt. Ziel der Übung ist die «Interoperabilität», d. h. die Integration der Streitkräfte (hauptsächlich der Seestreitkräfte) anderer Länder in die Streitkräfte der Vereinigten Staaten. Die Hauptbefehlsgewalt über die Übung liegt bei den USA, die das Herz und die Seele von RIMPAC sind.

Fatu Feu’u (Samoa), Mata Sogia, 2009.

Warum ist RIMPAC so gefährlich?

Aus RIMPAC-bezogenen Dokumenten und offiziellen Erklärungen geht hervor, dass die Übungen den Seestreitkräften die Möglichkeit geben, «für ein breites Spektrum möglicher Operationen auf der ganzen Welt» zu trainieren. Sowohl aus den strategischen Dokumenten der USA als auch aus dem Verhalten der US-Beamt*innen, die RIMPAC leiten, geht jedoch klar hervor, dass China im Mittelpunkt des Interesses steht. Aus den strategischen Dokumenten geht ebenfalls hervor, dass die USA China als große Bedrohung, ja sogar als Hauptbedrohung für die Vorherrschaft der USA ansehen und glauben, dass das Land eingedämmt werden muss.

Diese Eindämmung erfolgte durch den Handelskrieg gegen China, aber vor allem durch ein Netz militärischer Manöver der Vereinigten Staaten. Dazu gehören die Einrichtung weiterer US-Militärstützpunkte in Gebieten und Ländern, die China umgeben, der Einsatz von Militärschiffen der USA und ihrer Verbündeten, um China durch Übungen zur freien Schifffahrt zu provozieren, die Drohung, US-Kurzstreckenraketen in Ländern und Gebieten zu stationieren, die mit den USA verbündet sind, einschließlich Taiwan, der Ausbau des Flugplatzes im australischen Darwin, um US-Flugzeuge mit Atomraketen zu positionieren, die Verstärkung der militärischen Zusammenarbeit mit den Verbündeten der USA in Ostasien mit einer Sprache, die deutlich macht, dass das Ziel darin besteht, China einzuschüchtern, und die Durchführung von RIMPAC-Übungen, insbesondere in den letzten Jahren. Obwohl China zur Teilnahme an die RIMPAC 2014 und RIMPAC 2016 eingeladen wurde, als die Spannungen noch nicht so massiv waren, wurde es seit der RIMPAC 2018 wieder ausgeladen.

Auch wenn die RIMPAC-Dokumente den Eindruck erwecken, dass die Militärübung zu humanitären Zwecken durchgeführt wird, handelt es sich dabei um ein trojanisches Pferd. Dies zeigte sich beispielsweise bei der RIMPAC 2000, als die Streitkräfte die internationale Übung Strong Angel für humanitäre Hilfe durchführten. Im Jahr 2013 haben die Vereinigten Staaten und die Philippinen nach dem verheerenden Taifun Haiyan bei der Bereitstellung humanitärer Hilfe zusammengearbeitet. Kurz nach dieser Zusammenarbeit unterzeichneten die USA und die Philippinen das Abkommen über die verstärkte Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich (2014), das den USA den Zugang zu Stützpunkten des philippinischen Militärs ermöglicht, um ihre Waffendepots und Truppen zu unterhalten. Mit anderen Worten: Die humanitären Operationen öffneten die Tür zu einer vertieften militärischen Zusammenarbeit.

RIMPAC ist eine militärische Übung mit scharfer Munition. Der spektakulärste Teil der Übung ist die Versenkungsübung (SINKEX), bei der ausgemusterte Kriegsschiffe vor der Küste von Hawaii versenkt werden. Das Zielschiff der RIMPAC 2024 wird die ausgemusterte USS Tarawa sein, ein 40 000 Tonnen schweres amphibisches Angriffsschiff, das während seiner Dienstzeit eines der größten war. Es gibt keine Umweltverträglichkeitsprüfung für das regelmäßige Versenken dieser Schiffe in Gewässern in der Nähe von Inselstaaten, und es gibt auch keine Erkenntnisse über die Umweltauswirkungen der Durchführung dieser riesigen Militärübungen nicht nur im Pazifik, sondern auch anderswo auf der Welt.

RIMPAC ist Teil des Neuen Kalten Krieges gegen China, den die USA der Region aufzwingen. Sie ist darauf ausgelegt, Konflikte zu provozieren. Das macht RIMPAC zu einer sehr gefährlichen Übung.

Kelcy Taratoa (Aotearoa), Episode 0010 aus der Serie Who Am I? Episodes, 2004.

Welche Rolle spielt Israel bei RIMPAC?

Israel, das kein Land mit einer Küste am Pazifischen Ozean ist, hat 2018  zum ersten Mal an einer RIMPAC teilgenommen, und dann noch wieder an der RIMPAC 2022 und der RIMPAC 2024. Israel ist zwar nicht mit Flugzeugen oder Schiffen an der Militärübung beteiligt, nimmt aber an der «Interoperabilitätskomponente» teil, die die Einrichtung einer integrierten Befehls- und Kontrollstruktur sowie die Zusammenarbeit im nachrichtendienstlichen und logistischen Teil der Übung umfasst. Israel nimmt an der RIMPAC 2024 teil, während es gleichzeitig einen Völkermord an Palästinenser*innen in Gaza verübt. Obwohl mehrere der Beobachterstaaten der RIMPAC 2024 (wie Chile und Kolumbien) den Völkermord in aller Deutlichkeit verurteilt haben, nehmen sie weiterhin an der Seite des israelischen Militärs an der RIMPAC 2024 teil. Es gibt keinen öffentlichen Hinweis auf ein Zögern von ihnen in Anbetracht der Beteiligung Israels an diesen gefährlichen gemeinsamen Militärübungen.

Israel ist ein Siedlerkolonialstaat, der seine tödliche Apartheid und seinen Völkermord am palästinensischen Volk fortsetzt. Überall im Pazifik haben indigene Gemeinschaften von Aotearoa (Neuseeland) bis Hawai’i über die letzten 50 Jahre hinweg die Proteste gegen RIMPAC angeführt und darauf hingewiesen, dass diese Übungen auf gestohlenem Boden und in gestohlenen Gewässern abgehalten werden. Sie weisen darauf hin, dass die negativen Auswirkungen auf die indigenen Gemeinschaften, auf deren Land und in deren Gewässern Schießübungen abgehalten werden (einschließlich Gebieten, in denen zuvor atmosphärische Atomtests durchgeführt wurden), außer Acht gelassen werden und dass die Übungen zur Klimakatastrophe beitragen, die den Meeresspiegel anhebt und die Existenz der Inselgemeinschaften bedroht. Obwohl die Teilnahme Israels nicht überraschend ist, liegt das Problem nicht nur in seiner Beteiligung an RIMPAC, sondern in der Existenz von RIMPAC selbst. Israel ist ein Apartheidstaat, der einen Völkermord begeht, und RIMPAC ist ein koloniales Projekt, das einen Vernichtungskrieg gegen die Völker des Pazifiks und Chinas androht.

Ralph Ako (Salomonen), Toto Isu, 2015.

Te Kuaka (Aotearoa)

Red Ant (Australien)

Workers Party of Bangladesh (Bangladesch)

Coordinadora por Palestina (Chile)

Judíxs Antisionistas contra la Ocupación y el Apartheid (Chile)

Partido Comunes (Kolumbien)

Congreso de los Pueblos (Kolumbien)

Coordinación Política y Social, Marcha Patriótica (Kolumbien)

Partido Socialista de Timor (Timor Leste)

Hui Aloha ʻĀina (Hawai’i)

Communist Party of India (Marxist–Leninist) Liberation (Indien)

Federasi Serikat Buruh Demokratik Kerakyatan (Indonesien)

Federasi Serikat Buruh Militan (Indonesien)

Federasi Serikat Buruh Perkebunan Patriotik (Indonesien)

Pusat Perjuangan Mahasiswa untuk Pembebasan Nasional (Indonesien)

Solidaritas.net (Indonesien)

Gegar Amerika (Malaysia)

Parti Sosialis Malaysia (Malaysia)

No Cold War

Awami Workers Party (Pakistan)

Haqooq-e-Khalq Party (Pakistan)

Mazdoor Kissan Party (Pakistan)

Partido Manggagawa (Philippinen)

Partido Sosyalista ng Pilipinas (Philippinen)

The International Strategy Center (Republik Korea)

Janatha Vimukthi Peramuna (Sri Lanka)

Tricontinental: Institute for Social Research

Communist Party of Nepal (Unified Socialist)

CODEPINK: Women for Peace (Vereinigte Staaten von Amerika)

Nodutdol (Vereinigte Staaten von Amerika)

Party for Socialism and Liberation (Vereinigte Staaten von Amerika)

Als im Mai die politischen Proteste in Neukaledonien begannen, beeilte ich mich, einen Gedichtband der Führerin der Unabhängikeitsbewegung der Kanak Déwé Gorodé (1949-2022) mit dem Titel Unter der Asche der Muschelschalen (Sous les cendres des conques, 1974) zu finden. In diesem Buch, das im selben Jahr entstand, in dem Gorodé sich der marxistischen politischen Gruppe «Roter Schal» (Foulard rouges) anschloss, schrieb sie das Gedicht «Verbotene Zone» (Zone interdite), das mit den Worten endet

Reao Vahitahi Nukutavake

Pinaki Tematangi Vanavana

Tureia Maria Marutea

Mangareva MORUROA FANGATAUFA

Verbotene Zone

irgendwo im

sogenannten «französischen» Polynesien.

Dies sind die Namen von Inseln, die bereits von den französischen Atombombentests betroffen waren. Zwischen den Namen gibt es keine Satzzeichen, was zwei Dinge andeutet: erstens, dass das Ende einer Insel oder eines Landes nicht das Ende der nuklearen Verseuchung bedeutet, und zweitens, dass das Wasser, das an die Inseln stößt, die Menschen, die über weite Teile des Ozeans leben, nicht trennt, sondern sie gegen den Imperialismus vereint. Dieser Impuls trieb Gorodé zur Gründung der Gruppe 1878 (benannt nach dem Kanak-Aufstand in jenem Jahr) und 1976 zur Gründung der Kanak-Befreiungspartei (Parti de libération kanak, kurz PALIKA), die sich aus der Gruppe 1878 entwickelte. Wegen ihrer führenden Rolle im Kampf der PALIKA für die Unabhängigkeit von Frankreich wurde Gorodé von 1974 bis 1977 wiederholt inhaftiert.
Während ihrer Haftzeit gründete Gorodé zusammen mit Susanna Ounei die «Gruppe der kämpfenden ausgebeuteten Kanak-Frauen» (Groupe de femmes Kanak exploitées en lutte). Als die beiden Frauen das Gefängnis verließen, halfen sie 1984 bei der Gründung der Nationalen Befreiungs- und Sozialistischen Front der Kanak (Front de Libération Nationale Kanak et Socialiste). Angesichts ihres gemeinsamen Kampfes wurde Gorodé 2001 zur Vizepräsidentin von Neukaledonien gewählt.

Stéphane Foucaud (Neukaledonien), MAOW! (2023).

1985 unterzeichneten dreizehn Länder des Südpazifiks den Vertrag von Rarotonga, der eine atomwaffenfreie Zone von der Ostküste Australiens bis zur Westküste Südamerikas einführte. Als französische Kolonien gehörten weder Neukaledonien noch Französisch-Polynesien zu den Unterzeichnern, wohl aber andere Länder, darunter die Salomonen und Kūki ‘Airani (Cookinseln). Gorodé ist nun tot, und US-Atomwaffen sind im Begriff, unter Verletzung des Vertrags in den Norden Australiens vorzudringen. Doch der Kampf ist nicht erloschen.

Die Straßen sind immer noch blockiert. Die Herzen sind immer noch offen.

Herzlichst,
Vijay