Die Schwäche der progressiven lateinamerikanischen Regierungen in diesen prekären Zeiten

Der vierunddreißigste Newsletter (2024)

Andry León (Venezuela), José Gregorio Hernández, 2023.

Liebe Freund*innen,

Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.

Am 16. August 2024 stimmte die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), deren Gründung 1948 als Institution des Kalten Krieges von den Vereinigten Staaten initiiert wurde, über eine Resolution zu den venezolanischen Präsidentschaftswahlen ab. Der Kern der von den USA vorgeschlagenen Resolution forderte die venezolanische Wahlbehörde, den Nationalen Wahlrat (CNE), auf, so schnell wie möglich alle Details der Wahl zu veröffentlichen (einschließlich der Actas, der Wahlprotokolle, auf Ebene der lokalen Wahllokale). Mit diesem Beschluss wird der CNE aufgefordert, gegen das venezolanische Wahlgesetz (Ley Orgánica de Procesos Electorales, LOPE) zu verstoßen: Da das Gesetz die Veröffentlichung dieser Unterlagen nicht vorsieht, wäre dies ein Verstoß gegen das öffentliche Recht. Das Gesetz schreibt jedoch vor, dass der CNE die Ergebnisse innerhalb von 48 Stunden bekannt geben (Artikel 146) und innerhalb von 30 Tagen veröffentlichen muss (Artikel 155) und dass die Daten aus den Wahllokalen (z. B. die Actas) in Tabellenform veröffentlicht werden müssen (Artikel 150).
Es ist pure Ironie, dass die Resolution im Simón-Bolívar-Saal des OAS-Hauptquartiers in Washington, DC, verabschiedet wurde. Simón Bolívar (1783-1830) befreite Venezuela und die angrenzenden Gebiete vom spanischen Imperium und setzte sich für einen Integrationsprozess ein, der die Souveränität der Region stärken sollte. Zu Ehren seines Erbes trägt die Bolivarische Republik Venezuela seinen Namen. Als Hugo Chávez 1998 die Präsidentschaft erlangte, rückte er Bolívar in den Mittelpunkt des politischen Lebens des Landes und versuchte, dieses Erbe durch Initiativen wie die Bolivarian Alliance for the Peoples of Our Americas (ALBA) zu fördern, die den Weg zur Etablierung der Souveränität im Land und in der Region fortsetzen sollte. 1829 schrieb Bolívar: «Die Vereinigten Staaten scheinen von der Vorsehung dazu bestimmt zu sein, [Latein-]Amerika im Namen der Freiheit mit Elend zu plagen». Dieses Elend wird in unserer Zeit durch den Versuch der USA veranschaulicht, lateinamerikanische Länder durch Militärputsche oder Sanktionen zu ersticken. In den letzten Jahren standen Bolivien, Kuba, Nicaragua und Venezuela im Epizentrum dieser «Plage». Die OAS-Resolution ist ein Teil dieser Erstickung.

José Chávez Morado (Mexiko), Carnival in Huejotzingo, 1939.

Bolivien, Honduras, Mexiko und St. Vincent und die Grenadinen nahmen nicht an der Abstimmung teil (ebenso wenig wie Kuba, das 1962 von der OAS ausgeschlossen wurde, was Castro dazu veranlasste, die Organisation als «Kolonialministerium der Vereinigten Staaten» zu bezeichnen, oder Nicaragua, das die OAS 2023 verließ). Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador (bekannt als AMLO) beschrieb, warum sein Land beschlossen hatte, nicht an der OAS-Sitzung teilzunehmen und warum es mit der von den USA vorgeschlagenen Resolution nicht einverstanden ist. Er zitierte aus Artikel 89, Abschnitt X der mexikanischen Verfassung (1917), in dem es heißt, dass der Präsident Mexikos die Grundsätze der «Nichteinmischung, der friedlichen Beilegung von Streitigkeiten und des Verbots der Androhung oder Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen» einhalten muss. Aus diesem Grund, erklärte AMLO, werde Mexiko abwarten, bis die «zuständige Behörde des Landes» die Meinungsverschiedenheiten beigelegt habe. Im Falle Venezuelas ist der Oberste Gerichtshof die zuständige Instanz, was die Opposition jedoch nicht davon abgehalten hat, seine Legitimität abzulehnen. Diese Opposition, die wir als eine besondere Art der extremen Rechten charakterisiert haben, ist bestrebt, den bolivarischen Prozess mit allen Mitteln – einschließlich einer Militärintervention der USA – zu stürzen. Die vernünftige Position von AMLO entspricht der Charta der Vereinten Nationen (1945).

Viele Länder mit scheinbar Mitte-Links- oder Links-Regierungen haben sich den USA angeschlossen und für diese OAS-Resolution gestimmt. Zu ihnen gehören Brasilien, Chile und Kolumbien. Obwohl Chile einen Präsidenten hat, der Salvador Allende bewundert (der 1973 durch einen von den USA angeordneten Staatsstreich ermordet wurde), bezieht das Land in vielen Fragen (auch in Bezug auf Venezuela und die Ukraine) eine außenpolitische Haltung, die mit der des US-Außenministeriums übereinstimmt. Seit 2016 hat das Land auf Einladung der chilenischen Regierung fast eine halbe Million venezolanische Migrant*innen aufgenommen, viele ohne Papiere, denen nun durch ein zunehmend feindliches Umfeld die Ausweisung aus Chile droht. Es scheint fast so, als wolle der Präsident des Landes, Gabriel Boric, dass sich die Lage in Venezuela ändert, damit er die Rückkehr der Venezolaner*innen in ihr Heimatland anordnen kann. Diese zynische Interpretation von Chiles Zustimmung zur US-Politik gegenüber Venezuela erklärt jedoch die Situation in Brasilien und Kolumbien nicht.

Pablo Kalaka (Chile), Ohne Titel, 2022, aus Lendemains solidaires no. 2.

Unser neuestes Dossier To Confront Rising Neofascism, the Latin American Left Must Rediscover Itself («Um dem aufkommenden Neofaschismus entgegenzutreten, muss die lateinamerikanische Linke sich selbst neu entdecken») analysiert die aktuelle politische Landschaft auf dem Kontinent und hinterfragt zunächst die Annahme, dass es eine zweite «rosa Flut» oder einen zweiten Zyklus progressiver Regierungen in Lateinamerika gegeben hat. Der erste Zyklus, der 1998 mit der Wahl von Hugo Chávez in Venezuela begann und nach der Finanzkrise 2008 und der Gegenoffensive der USA gegen den Kontinent zu Ende ging, «forderte den US-Imperialismus frontal heraus, indem er die lateinamerikanische Integration und geopolitische Souveränität vorantrieb», während der zweite Zyklus, der sich durch eine stärkere Mitte-Links-Orientierung auszeichnet, «fragiler erscheint». Diese Fragilität ist bezeichnend für die Situation sowohl in Brasilien als auch in Kolumbien, wo die Regierungen von Luiz Inácio Lula da Silva bzw. Gustavo Petro nicht in der Lage waren, ihre volle Kontrolle über die herrschenden Bürokrat*innen in den Außenministerien auszuüben. Weder der brasilianische (Mauro Vieira) noch der kolumbianische Außenminister (Luis Gilberto Murillo) sind Männer der Linken oder gar der linken Mitte, und beide haben als ehemalige Botschafter in den USA enge Beziehungen zu den USA. Es sei daran erinnert, dass es in Kolumbien immer noch mehr als zehn US-Militärstützpunkte gibt, auch wenn das keine ausreichende Erklärung für die Fragilität dieses zweiten Zyklus ist.

In dem Dossier bieten wir sieben Gründe für diese Fragilität an:

  1. die weltweiten Finanz- und Umweltkrisen, die zu einer Spaltung der Länder der Region über den einzuschlagenden Weg geführt haben;
  2. die Wiedererlangung der Kontrolle der USA über die Region, die sie während der ersten progressiven Welle verloren hatten, insbesondere um sich gegen das zu wehren, was die USA als den Eintritt Chinas in die lateinamerikanischen Märkte ansehen. Dazu gehören auch die natürlichen Ressourcen und die Arbeitskräfte der Region;
  3. die zunehmende Uber-isierung der Arbeitsmärkte, die zu einer weitaus größeren Unsicherheit für die Arbeiterklasse geführt und sich negativ auf ihre Fähigkeit zur Massenorganisation ausgewirkt hat. Dies hat zu einem erheblichen Abbau von Arbeitnehmerrechten geführt und die Macht der Arbeiterklasse geschwächt;
  4. Die Neugestaltung der sozialen Reproduktion, in deren Mittelpunkt die Desinvestition der öffentlichen Hand in die Sozialpolitik steht, wodurch die Verantwortung für die Pflege in den privaten Bereich verlagert und in erster Linie Frauen überlastet werden;
  5. die verstärkte militärische Macht der USA in der Region als ihr wichtigstes Herrschaftsinstrument als Reaktion auf ihre schwindende Wirtschaftskraft;
  6. die Tatsache, dass die Regierungen der Region nicht in der Lage waren, den wirtschaftlichen Einfluss Chinas und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten zur Durchsetzung einer souveränen Agenda zu nutzen, und dass China, das sich zum wichtigsten Handelspartner Lateinamerikas entwickelt hat, nicht versucht hat, die US-Agenda zur Sicherung der Hegemonie über den Kontinent direkt in Frage zu stellen;
  7. Spaltungen zwischen fortschrittlichen Regierungen und der Aufstieg des Neofaschismus in Nord- und Südamerika behindern die Entwicklung einer fortschrittlichen regionalen Agenda, einschließlich einer Politik der kontinentalen Integration, wie sie während der ersten progressiven Welle vorgeschlagen wurde.

Diese und andere Faktoren haben die Durchsetzungskraft dieser Regierungen und ihre Fähigkeit geschwächt, den gemeinsamen bolivarischen Traum von hemisphärischer Souveränität und Partnerschaft zu verwirklichen.

Antonia Caro (Kolumbien), Colombia, 1977.

Ein weiterer, aber entscheidender Punkt ist, dass das Gleichgewicht der Klassenkräfte in Gesellschaften wie Brasilien und Kolumbien nicht für eine wirklich antiimperialistische Politik spricht. Gefeierte Wahlerfolge wie die Siege von Lula und Petro im Jahr 2022 beruhen nicht auf einer breiten Unterstützung durch die organisierte Arbeiterklasse, die die Gesellschaft dazu zwingt, eine wirklich transformative Agenda für die Menschen voranzutreiben. Zu den siegreichen Koalitionen gehörten Mitte-Rechts-Kräfte, die nach wie vor gesellschaftliche Macht ausüben und verhindern, dass diese Führungspersönlichkeiten – ungeachtet ihrer eigenen tadellosen Referenzen – freie Hand beim Regieren haben. Die Schwäche dieser Regierungen ist eines der Elemente, die das Wachstum der extremen Rechten einer besonderen Art ermöglichen.

Wie wir in dem Dossier argumentieren, «hat die Schwierigkeit, ein politisches Projekt der Linken aufzubauen, das die alltäglichen Probleme der Arbeiterklasse überwinden kann, viele dieser progressiven Wahlprojekte von den Bedürfnissen der Massen abgekoppelt». Die Arbeiterklasse, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen gefangen ist, braucht massive (staatlich geförderte) produktive Investitionen, die auf der Ausübung der Souveränität über jedes Land und die Region als Ganzes beruhen. Die Tatsache, dass eine Reihe von Ländern in der Region sich mit den USA verbündet haben, um die Souveränität Venezuelas zu beschneiden, zeigt, dass diese fragilen Wahlprojekte kaum in der Lage sind, die Souveränität zu verteidigen.

Daniel Lezama (Mexiko), El sueño del 16 de septiembre, 2001.

In ihrem Gedicht «Quo Vadis» reflektiert die mexikanische Dichterin Carmen Boullosa das problematische an Bekenntnissen zur Agenda der US-Regierung. Las balas que vuelan no tienen convicciones («fliegende Kugeln haben keine Überzeugungen»), schreibt sie. Diese «fortschrittlichen» Regierungen haben keine starke Haltung zu Operationen zum Regimewechsel oder Destabilisierungsbemühungen in anderen Ländern der Region. Wir sollten viel von ihnen erwarten können, und dennoch wäre es unangemessen, zu enttäuscht zu sein von ihnen.

Herzlichst,
Vijay